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WOHNEN • LIVING
MAISON MOLAIRE
IN GENF
Entwurf • Design Bureau, CH-Genf
Wohnformen sind so individuell wie das Leben. Der Grundriss dieses
120 Quadratmeter großen Apartments in Genf ist ein wahres Bezie-
hungsgeflecht. Klassische Zimmer mit Wänden und Türen gibt es
nicht, stattdessen Glastrennwände und Vorhänge. Durch offene oder
geschlossene Situationen ändert das Loft permanent sein Gesicht, je
nach den Bedürfnissen der Familie – ein Entwurf von Bureau.
von • by Annette Weckesser
L ebensweisen sind heute so vielfältig wie noch nie, sie werden ent- und verworfen,
sind dynamisch. Lebens-, Wohnungs- und Ehepartner wechseln. Familien wachsen
und schrumpfen, Kinder ziehen ein und aus, Wohnräume werden teils dauerhaft, teils
temporär genutzt. Starre „Beziehungskisten“ scheinen ein Auslaufmodell zu sein – als
Familienstruktur ebenso wie als Wohnform. Flexible Lebensmodelle verlangen nach
ebenso flexiblen, „elastischen“ Wohnformen. Und wo lässt sich Individualität besser aus-
leben als in den eigenen vier Wänden? Ein Beispiel dafür ist die Maison Molaire in Genf,
realisiert von Bureau. Das Architekturbüro ist für seine explizit nicht der Norm entspre-
chenden, überraschend eigenwilligen Konzepte bekannt. Das hier gezeigte Apartment
befindet sich im obersten Geschoss eines kleinen, einfachen Mischnutzungsgebäudes
aus den 1980er-Jahren, das zwischen zwei höheren Gebäuden sitzt. Zuletzt befand sich
hier eine Zahnarztpraxis. Fenster gibt es lediglich auf der nach Norden (!) orientierten
Längsseite. Diese werden durch zwei Oberlichter in der Querachse ergänzt. Die Belich-
tung war deshalb ein zentrales Thema. Offenheit auch. Diese brachte der 120 Quadrat-
meter große, stützenfreie Grundriss von vornherein mit sich. Flexible Zonierungen schuf
Bureau über Vorhänge, Trennwände aus Sperrholz und Glas sowie Sideboards. Küche,
Wohn-, Ess-, Schlaf- und Sanitärbereich der Eltern sind im Grunde Eines. Das Auf- und
Zuziehen der Vorhänge – blaue für die Schlafbereiche der Eltern und Kinder, rosafarbene
für die Sanitärbereiche – schafft dynamische, im Laufe des Tages immer wieder wechseln-
de Raumszenarien. Geprägt wird dieser lebendige Organismus durch einfache, durchaus
provisorisch wirkende Materialien: Sperrholzplatten für den Boden und Trennwände,
einfache Fliesen für die Dusche, aber auch einzelne Wände, den Esstisch oder die in den
Schlafbereich reichende Decke über der Dusche. Sämtliche Räume treten mal mehr,
mal weniger miteinander in Beziehung, so wie die BewohnerInnen selbst. Es ist eine
Entscheidung: sehen oder (nicht) gesehen werden. Eines bleibt bei diesem offenen
Konzept nicht aus: „Die Möglichkeit von Unordnung ist allgegenwärtig“, so Bureau.
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