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REDINGS ESSAY

                                          LES MAISONS




                               DE MONSIEUR K.L.





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





           D   ie Berliner U-Bahnfahrer streiken. Ich  werde  zu spät kommen.  Zum großen  seines Kultfilms „Supermarkt” in den säulenumstellten Sälen, dann schlummerte sie
               Nach-Neujahrs-Festessen. Gegeben von Jeremy, dem jungen Künstler aus Glasgow.
                                                                         erneut, bis Karl Lagerfeld jenes „Latifundium”, wie die Lokalpresse ausführlich berichtete,
           Die Einladung kam so kurzfristig. Und jetzt auch noch ein Regenschauer. Und was für   erwarb. Aber noch aus einem anderen Grund kannte ich die „Villa Jako”: In der Kantine
           einer! „It´s raining cats and dogs”, wie es die Briten so trefflich beschreiben. Ich flüchte,   der Hamburger Kunsthochschule rannte er mir entgegen, ganz aufgeregt. Nein, nicht Karl
           erst unter eine Baumkrone, dann unter das Zeltdach einer Dönerbude, dann in ein Kauf-  Lagerfeld, aber mein stets unbeschwerter, erfolgreicher Mitstudent Tom: „Ich habe den
           haus. Die plötzliche Wärme tut gut. Hier wird noch die Weihnachtsdeko abgebaut. Um   Job! Ich passe auf Lagerfelds Villa auf!” „Wie, dieses römische Senatoren-Ding an der
           die Ausgänge drängen sich die Geschenketische: Spielzeug, Kochtöpfe, Nikoläuse, Bücher.   Elbe?” „Ja!” Was für ein Job!  Dafür bezahlt werden, dass man in einer Villa mit Park und
           Prächtige Coffeetable-Books, draußen jetzt Sturmböen, der Regen prasselt waagerecht. Ich   Elbblick wohnen darf. Ein Zimmer im Haus bekam er noch mietfrei dazu. Ich bekenne,
           betrachte die Cover, öffne eines der zerlesenen Ansichtsexemplare. Ein Buch über „Cool-  ich war neidisch. Das Kaufhaus wärmt, es regnet weiter, ich blättere: „Hier feierte er mit
           ness” (mit vielen „coolen” Fotografien von Jaguars, Porsches und Ray-Ban-Sonnenbrillen)   Prinzessin Stéphanie von Monaco ihren 18. Geburtstag”. Der Bildband zeigt das Foto eines
           dann ein Buch über Reiseziele in der Sahara (mit viel Sand, wunderbar fotografiert), dann   barocken Speisezimmers. Natürlich auch dieser Raum vortrefflich gestaltet, der Esstisch
           eins über vegane Kochkunst auf Island (frischer Tofu drapiert vor sprudelnden Geysiren,   reicht für mindestens 30 Personen. Aber Gäste fehlen auf dem Bild. Überhaupt, sie fehlen
           wunderbar fotografiert), dann eines über die englische Königsfamilie (noch wunderbarer   auf allen Bildern. Stattdessen diese Zimmer, mal Barock, mal Empire, mal Art-Déco, mal
           fotografiert). Ich gähne, friere, schaue hinaus: Die nächste Sturmböe. Also der nächste   deutscher Jugendstil. Immer wohlfeil vorbereitet, wie ein leeres Fünf-Sterne-Hotel. Oder
           Bildband, etwas voluminöser, etwas edler gebunden als die anderen. Das Cover präsen-  als Set, als Deko für eine Fotografie. Selbst seine gezeigten Schreibtische, seine Badezim-
           tiert ein strenges Empire-Zimmer mit einem hellblau gestreiften Sofa in der Bildmitte.  mer, makellos sauber, makellos schön, unbenutzt-nutzlos. Irgendwann, bei Seite 180 oder
           „Im Hause Lagerfeld” verkündet der Buchtitel in feinen Garamond-Buchstaben. Ich zöge-  220 überkommt mich Zorn. Hat dieser Lagerfeld denn nie seine Socken in die Ecke gewor-
           re. Alles, einfach alles weiß die Yellow-Press über diesen                        fen, das Geschirr einmal nicht gespült, die perfekt arrangie-
           Modeschöpfer, von seinen unzähligen Talkshow-Auftritten,                          ren Blumen vergessen, sie vertrocknen lassen? Wenigstens
           seinen stets eloquenten Bonmots, die oft überraschender,                          eine Cola-Dose irgendwo gedankenverloren abgestellt,
           mutiger  wirkten als seine Mode-Entwürfe,  von seinem                             Schmutzringe auf dem hochpolierten Holz der Intarsienti-
           Fächer bis zum Zopf, vom Handschuh bis zum Stehkragen,                            sche hinterlassend? Hat er nie in all den Villen, Herrensit-
           von seinen Model-Entdeckungen, von Claudia Schiffer bis                           zen, Schlössern GELEBT? Da begreife ich: In diesem dicken
           Lara Stone bis zu den Launen seiner Birma-Katze Choupet-                          Bildband geht es nicht um Möbel, nicht um „Domizile”,
           te. Jetzt also seine Häuser. Oder passender: seine privaten                       nicht um die Kunst der Dekoration, ob jener Sessel im Stil
           Anwesen, oder schnöder: seine Immobilien. Der Buch-Un-                            Louis XVI. echt oder „in der Art von” oder dieser da von
           tertitel formuliert es elegant: „Die Domizile Karl Lager-                         Jaques-Émile Ruhlmann oder doch Bruno Paul entworfen
           felds”. Draußen Hagelschauer, ich öffne den Bildband: Auf                         wurde. Das Buch ist eine philosophische Abhandlung. Eine
           den ersten Seiten, ordentlich chronologisch, seine frühen                         genaue, treffende Abhandlung. Es ist ein Buch über Ein-
           Wohnungen, auch die schon edel und übergroß, gekonnt                              samkeit. Und die Unmöglichkeit, sie mit Geld und selbst
           dekoriert im Stil des französischen Art Déco, voller Origi-                       mit kreativer Energie, fast Raserei, zu kompensieren. Es ist
           nalmöbel: Jean Dunand, René Lalique, Jacques-Émile Ruhl- Grafik: Benjamin Reding  ein radikales Buch. Radikal – ungewollt – ehrlich. Damals,
           mann, immer die großen Namen. Dann ein Appartement                                in der Kunsthochschul-Kantine, traf ich meinen Kommili-
           in Monaco: Memphis-Möbel, Sottsass, Michele de Lucchi,                            tonen nach ein paar Monaten wieder: „Na, wie läufts bei
           Matteo Thun – ultramodern in jenen Tagen. Dann Landhäuser, Villen, zuletzt auch Schlös-  Lagerfeld? Schon viele rauschende Partys erlebt? „Nö”, sagt er, „ich hab den Job verloren.
           ser. Die Möbel – pardon: das Meublement – stets perfekt arrangiert, bis zu den Vorhängen,   Er war nur einmal da in der ganzen Zeit, und ich war genau dann nicht da. Aber in Blan-
           Kissen, Tapeten, von Louis XV. bis Louis XVI. bis Napoleon. Dann eine Villa in Hamburg.   kenese ist eh nix los.” Vor dem Kaufhaus regnet es nicht mehr. Ich klappe das Buch zu.
           Karl Lagerfeld taufte sie „Villa Jako”, nach seinem einstigen Geliebten Jacques „Jako” de   Ortswechsel: Eine Erdgeschosswohnung, sozialer Wohnungsbau der 1950er-Jahre. Also
           Bascher. Ich kannte die Villa. Als sie noch nicht so hieß. Unter uns Hamburger Archi-  alles winzig: die Türen (mit Riffelglas und vergilbtem Lack), die Einbauküche mit ihren
           tekturstudentInnen galt sie als Geheimtipp. Eine leerstehende, Efeu-überrankte Villa an  bunten Schubfächern, das Babyblau-gekachelte Bad, der schmale Tortenstück-Balkon.
           der Elbchaussee. 400 Quadratmeter groß, mit 12.000 Quadratmeter Park davor. Streng  Die Decken sind niedrig, die Fenster spärlich, der Ausblick geht, naja, auf den Hinterhof.
           klassizistisch angelegt auf einem Elbhang, mit dramatischer Aussicht auf den breiten,  Sicher war das Ganze einst als Wohnambiente für alleinstehende Postbeamte gedacht.
           schwermütig-dunklen Fluss. Und ebenso „klassizistisch” das Haus: Eine auf drei Etagen   Und ein solcher hat dort gewohnt, bis vor zwei Jahren. Dann kam Jeremy, der Künstler
           komprimierte Version der „Villa Jovis” des römischen Kaisers Tiberius auf Capri, nicht  aus Glasgow. Zum Nach-Neujahrs-Festessen versammelten sich sein Galerist, ein distin-
           ganz so groß, aber genauso „griechisch-römisch”: Ionische Säulen am Eingang, dorische   guierter Herr aus London, zwei Künstlerinnen aus Gundelfingen und San Francisco, sein
           vor der Terrasse und dazwischen ein Atrium (trotz Hamburger Schmuddelwetter“). Ein   Freund, ein fröhlicher, Kette-rauchenden Pfleger in der Palliativmedizin, und ich. Es gab
           Schiffsversicherer gab den Bau 1922 in Auftrag. Das machte Sinn: Von den Fenstern aus   Ente mit Rotkraut und Klößen. In der Küche stapelte sich ungespültes Geschirr, im engen
           konnte er den Schiffen bei der Rückkehr in den Hamburger Hafen zusehen und sich über   Bad baumelte Wäsche, das winzige Wohn-/Esszimmer war rundherum verstellt mit Lein-
           die dabei verdienten Prämien freuen. Bauherr und Architekt, ein Herr Witte und ein Herr   wänden, Farbtuben, Terpentinflaschen, Pinseln und Putztüchern (oder alten Socken?), das
           Baedeker, sind längst vergessen. 1973 tauchte die Villa noch für einen kurzen Moment   Festessen war so lala, der Wein aber kraftvoll, die Musik laut, die Aschenbecher übervoll,
           aus ihrem Efeu-überwachsenen Tiefschlaf auf, Filmemacher Roland Klick drehte Szenen   zum Nachtisch gab es Eis aus dem Kühlregal. Wow, war das ein Abend!

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