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REDINGS ESSAY



                                                  MONTAUK








                                                             Ein Essay von Dominik Reding







              A   ls Max Frisch, der Architekt und Schriftsteller, alt wurde, seine Schläfen  weit schweift der Blick von der Terrasse über das sanft gewellte Rasengrund-
                  grau, die Brillengläser dicker, die Bewegungen eckig, reiste er nach New
                                                                          stück bis hinab zum großen See hinter der Grundstücksgrenze, die früher einmal
              York und begann eine Affäre. Mit einer jungen Amerikanerin. Eine kurze, späte,  die Staatsgrenze war. In Volker Schlöndorffs Villa, die man ein Haus nennen
              schnelle und schnell endende Affäre. Und schrieb ein Buch darüber. Über die Af-  könnte, wenn der Garten nicht so weitläufig, so altersschwer, so überlegt gestal-
              färe und das Altwerden, über Lebensentwürfe und ihr Scheitern, über seine Ein-  tet wie ein Park wäre, residierten bis 1990 die Grenztruppen der Nationalen
              samkeit, den Geruch von Seetang und Meer und die Sehnsucht nach Glück. Er  Volksarmee der DDR. Da, wo jetzt der Efeu die breiten Buchenstämme umspielt,
              benannte das Buch nach dem Ort der Handlung: Montauk. Volker Schlöndorff  patrouillierten die Grenztruppenoffiziere in ihren IFA-Kübelwagen. Und da, wo
              ist nervös. Dabei scheint doch die Sonne, weht eine milde Brise, wiegen die Äste  jetzt ein geschwungenes Weglein zum Seeufer herabführt, standen Wachturm
              der blühenden Kastanien sanft auf und ab. Aber er ist nervös, fast so, wie ein  und Mauer. „Im letzten Drittel, da wird es dann ja sehr ruhig, fast elegisch. Willst
              Filmschüler vor der Abschluss-                                                               du das so lassen?“ Regiekollege
              prüfung. Einige Mitarbeiter und                                                              Peter Fleischmann formuliert es
              Bekannte sind da, und Peter                                                                  vorsichtig, mit Bedacht. Sein
              Fleischmann, sein Regiekollege.                                                              saarländischer Akzent lässt es oh-
              Fast zeitgleich besuchten sie das                                                            nehin nicht hart klingen. Schlön-
              „Institut des Hautes Études Ci-                                                              dorff hört zu, gespannt, konzen-
              nématographiques“ in Paris, fast                                                             triert. Wenn man ihn so sieht,
              zeitgleich wurden sie berühmt.                                                               man kann es nicht glauben: Der
              Volker Schlöndorff 1966 mit                                                                  junge, wache Mann, der da sitzt
              „Der  junge  Törless“,  Peter                                                                und zuhört, wird bald 80 Jahre alt
              Fleischmann 1968 mit „Jagdsze-                                                               sein. Aber jung sind die Bewe-
              nen aus Niederbayern“, zwei                                                                  gungen, jung die Stimme, jung
              Erstlings-Spielfilme in Schwarz-                                                             die schnellen, lebhaften Reaktio-
              weiß, die mit ihrer radikalen                                                                nen. Jung auch seine Nervosität,
              Ehrlichkeit und schonungslosem                                                               die nichts spüren lässt von einem
              Realismus punktgenau den Zeit-                                                               Lebenswerk aus über 30 Kinofil-
              geist kurz vor der Studentenre-                                                              men. Er erklärt, erzählt von den
              volte trafen. Jetzt kommen sie                                                               präzisen, mehrmonatigen Vorpro-
              gemeinsam von einem Test-                                                                    ben mit den Hauptdarstellern,
              Screening, der privaten ersten                                                               den Besonderheiten eines Drehs
              Vorführung des nächsten Kino-                                                                in englischer Sprache, eines
              films von Volker Schlöndorff:                                                                Drehs in New York, eines Drehs
              „Rückkehr nach Montauk“. Nina                                                                mit Schauspielern aus vier Län-
              Hoss und Stellan Skarsgård                                                                   dern. Von der Anstrengung eines
              spielen ein Paar, das sich einmal                                                            Drehs in englischer Sprache, in
              in New York kennen und lieben                                                                New York, mit Darstellern aus
              lernte und sich verlor und dann, Foto: Benjamin Reding                                       vier Ländern für einen fast 80-
              17 Jahre später, wiederbegegnet.                                                             jährigen Regisseur – spricht Vol-
              Weit draußen, auf der Halbinsel                                                              ker Schlöndorff nicht. Ja, der
              Long Island vor Manhattan, dessen östlichster Zipfel in der Indianersprache  Schluss werde sich ändern, er werde straffer, knapper geschnitten. Es habe so
              „Montauk“ genannt wird. Das Wiedersehen scheitert, die alten Gefühle und  viel gutes Material von den Schauspielern gegeben, da sei ihm das Wegnehmen
              neue Lebensläufe bleiben unvereinbar. Die Geschichte ist frei an Max Frischs Er-  schwerer gefallen, sagt er. Peter Fleischmann nickt. Man trinkt noch Kaffee, isst
              zählung „Montauk“ angelehnt, aber es sind nur ein paar Motive. Das Drehbuch,  die letzten Stücke Pflaumenkuchen, verabredet sich locker für das nächste
              die Story stammt von Volker Schlöndorff selbst. Das ist eine Premiere, Schlön-  Screening, die nächste Schnittfassung. Dann gehen die „Film-Granden“ ausein-
              dorff-Filme waren fast immer Literaturverfilmungen, von Robert Musil bis Günter  ander. Morgen muss Volker Schlöndorff früh raus. Er fliegt nach New York. Aber
              Grass, von Marcel Proust bis Arthur Miller, die Großen der Weltliteratur gaben  nicht zum Drehen. Er fährt zu seinem Ferienhaus nach Long Island. Ausspannen,
              die Ideenvorlagen. Bei „Montauk“ wird die Kritik also beides meinen, beides  am Strand liegen, schwimmen, nichts tun. Oder den nächsten Film schreiben.
              treffen, seinen Film und sein Drehbuch. Keine bequemen Aussichten. Kaffee und  Weit draußen steht das Haus, am östlichsten Inselzipfel, im Garten der Geruch
              Pflaumenkuchen stehen bereit, bunte Stoffkissen liegen auf den Gartenstühlen,  von Seetang und Meer: In Montauk.


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