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REDINGS ESSAY
                         IM WELTBERÜHMTEN




                                            REIHENHAUS





                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            E   s war einer von diesen Adresszetteln, von denen man annimmt, dass man sie nie-  ausgenutzt und knallen die Tür zu. Ich klingelte. Stille. Ich klingelte nochmal. Geräusche
                                                                          hinter der Tür. Eine junge Frau öffnete zögerlich, das Gesicht gerötet, die langen, schwar-
                mals braucht. Nachlässig ausgerissen, unleserlich hingekritzelt, hektisch kleinge-
            faltet und dann, kurz vor der Abfahrt, tief in der Hosentasche vergraben. Und jetzt saß  zen Haare zerzaust. „Yes?“ Ich sagte meinen Text, verhaspelte mich, wiederholte. Sie
            ich in einem postkartentauglichen Londoner Doppeldeckerbus und der Zettel war meine  hörte zu, schaute verständnislos. Ich sah, dass sie die Tür vorsichtig wieder andrückte.
            letzte Rettung. London-Reisen können großartig sein, wenn man ein gemütliches Hotel-  „I´m a friend of your family. My father knows your dad. They know each other for years!“
            zimmer oder eine trendige Airbnb-Bude oder gar eine Mietwohnung mit Blick auf die  Es war ja fast die Wahrheit, hatte mein Vater den berühmten Autor doch einmal aus 150
            Kensington Gardens hat. Hat man das alles nicht, hat man überhaupt kein Geld, wird  Meter Entfernung auf einer Podiumsdiskussion gesehen. Die junge Frau überlegte, der
            es schwierig. Nach fünf Tagen in Jugendherbergen, Youth-Hostels und öffentlichen Dor-  Regen tropfte aus meinen Haaren, ich fror. Sie öffnete die Tür. „For one night.“ Ein enger
            mitories wurde es schwierig. In London fand wieder mal etwas ganz Bedeutendes statt,  Flur, eine schmale Treppe, ausgetretener Veloursteppich, geblümte Tapete bis zur Decke.
            eine Demo, ein legendäres Pop-Konzert, eine Royal Wedding. Es gab keine Zimmer  Englisches Reihenhaus, ganz und gar! Die Stufen knarrten. „I´ve some friends visiting“.
            mehr, nein, es gab keine Betten mehr, nicht einmal mehr ein Klappbett hinterm Küchen-  Noch ein Flur, wieder geblümte Tapete, dann die nächste Tür. Zwei junge Männer hock-
            vorhang. Es sei denn für Geld. Aber das hatte ich nicht! Die Adresse auf meinem Zettel  ten auf dem Boden, schauten hoch und sagten gelangweilt: „Hi“. Mich fragten sie nichts.
            kann man nicht finden. Nicht im Internet, nicht im Telefonbuch. Sie ist geheim. Wie bei  Die junge Frau setzte sich zu ihnen auf den Teppich, ich mich auf den einzigen freien
            allen weltberühmten Leuten! Wie bei diesem Schriftsteller! Nur die Eingeweihten, die  Stuhl und hörte zu. Sie redeten von Musik, von Pop-Stars, von Freunden, Liebschaften,
            Erlauchten bekommen sie, als Business-Card oder verschlüsselte SMS oder als vertrau-  der Uni, Tony Blair. Es war so unspektakulär, so normal. Ich wurde müde, drohte, im
            liches Flüstern am Rand eines Sektempfangs. Es war Zufall, dass ich sie kannte. Ein zer-  Sitzen einzuschlafen. Aber das wäre unhöflich. Ich riss mich zusammen. Vielleicht war
            lesener Gedichtband jenes Autors, der vor den Nazis emi-                          ich einfach im falschen Haus gelandet. Wohnte der be-
            grierte und seit Jahrzehnten in London lebte und dessen                           rühmte Autor nicht doch in der 207? Oder in der Grosve-
            Texte über Frieden, Krieg, Hass und Liebe jeder Schüler                           nor Road oder Place oder Avenue? Verstohlen suchte ich
            kennt. Für 50 Cent auf einem Flohmarkt gekauft, mit Be-                           nach dem Adresszettel, aber der war im Regen zerfallen.
            sitzerstempel auf der ersten Sei te: seine private Adresse!                       Verklebte Krümel am Grund der Hosentasche! Langsam
            So etwas wie: Grosvenor Lane 206, Willesden Green, Lon-                           verebbte das Gespräch. Die Jungs schauten das Mädchen
            don, NW10. Da klopft man natürlich niemals an die Tür.                            an. „I´ll show you your room“, sagte sie und stand auf. Wir
            Taxushecken, Sicherheitszäune, Videoüberwachung, Klin-                            gingen die Treppe zurück ins Erdgeschoss, sie schloss eine
            gelschilder ohne Namen. Und würde man es doch bis                                 Doppeltür auf und machte Licht. „He´s in Viet nam, lecto-
            zum Eingang schaffen, dann stünde dort eine Haushälte-                            ring.“ Es war das Arbeitszimmer jenes berühmten, geach-
            rin, ein Chauffeur, ein Gärtner und würde sagen: „Sorry,                          teten, in jedem Schulbuch vertretenen Autors. Es gab kei-
            nobody´s at home.“ Es regnete in London, es war herbst-                           nen Zweifel, denn er war anwesend. Mit seinem wirren
            lich, es war kalt. Wohin, wohin? Ich kramte tief in meinen                        Haar, der markanten Brille, dem ernsten, traurigen Blick:
            Taschen: ein paar Pence noch (für eine Portion Fish &                             Als Bronzekopf, übergroß, expressiv, das Gesicht präzise
            Chips oder ein Busticket?) und, feucht und zerknautscht, Abbildung: Benjamin Reding  getroffen, in seiner Mischung aus Trauer, Grimm und Ver-
            der Adresszettel. Sollte ich es versuchen? Zum weltbe-                            zweiflung. „Until tomorrow“, sagte die junge Frau und
            rühmten Autor? Hinfahren, klingeln, nassgeregnet, durch-                          schloss, ohne weitere Erklärung, ohne Kommentar, die Tür.
            gefroren, traurig gucken und dann auf die in seinen Ge-                           Eine Gelehrtenstube, Literatengehäuse, Schreibkammer,
            dichten beschworene Nächstenliebe hoffen? Ich fuhr zum nächsten Hostel und bekam  so knorrig-englisch wie ein Miss Marple-Filmset. Erkerfenster mit Bleiglasrauten, Kamin
            die nächste Absage. Der Nieselregen wurde zu dichten Schauern, die Kälte beißend, es  mit Säulen links und rechts, unter schwerer, geistiger Last durchgebogene Bücherborde.
            dämmerte früh. Ich kaufte mir ein Busticket nach Willesden Green. Wie würde es aus-  In der Mitte der Schreibtisch, raumgreifend, daneben ein Sofa, mehr Chaiselongue, wie
            sehen? Ein respektables Stadthaus mit Palladio-Fens tern, Tempelgiebel und Säulenpor-  bei Sigmund Freud. Auf der Schreibtischplatte verstreut lagen Entwürfe neuer Gedichte,
            tal vielleicht. Und es würde einen Butler geben, der Sherry serviert oder heißen Punsch.  handgeschrieben, in der Entstehung jäh liegengelassen, der Bleistift noch daneben. Ich
            Und Berühmtheiten würden anwesend sein. Man ist ja in solchen Kreisen unter sich,  traute mich nicht, genauer hinzusehen, als wühlte ich in privater Post. Der Regen
            Literaten, Künstler, Schauspieler: Damian Hurst, Helen Mirren, Hugh Grant, fröhlich  klatschte ans Fenster, die Straßenlichter verschwammen, ich legte mich aufs Sofa, be-
            plaudernd, über das neueste Buch, das neueste Theaterstück, den neuesten Film. Und  wacht vom strengen Büsten-Blick. Das Gefühl, ein Eindringling, ein unverschämter
            dann, zu später Stunde, würde mich der Butler „upstairs“ bitten, wo mich ein üppiges  Hochstapler zu sein, ließ nach. Und nun, endlich, endlich, kam der Schlaf. In der frühen
            Himmelbett, „Queen-Anne-Style“, erwartet und ein „Amber Moon“ zur Nachtruhe und  Dämmerung, ich war längst wach, klopfe die junge Frau. „Good morning!“ Einen Tag
            „Ham and Eggs“ auf dem Silbertablett zum Frühstück und ...    und eine Nacht London hatte ich noch vor mir. Also bat ich wieder um Obdach, sehr
            „Grosvenor Lane“. Der Bus hielt. Ich schulterte den Rucksack und stapfte los. Nummer  vorsichtig tat ich das. Sie überlegte und antwortete freundlich: „No.“
            204, 205, 206! Hier also. Ein Reihenhaus. Kein Palast. Die üblichen zwei Meter Grün-  Ich ging dann schnell hinaus, zurück in den Regen. Erst war ich ungehalten, eine Nacht,
            streifen mit Mäuerchen davor. Aber, wie erwartet, kein Name auf dem Klingelschild. „I´m  das wäre doch gegangen, aber dann, als ich spät abends noch einen Platz in einem 30-
            Dominik Reding from Germany. I´m visting London and I have no place to sleep. Could  Betten-Schlafsaal fand und zwischen den Schnarchenden, Keuchenden, Hustenden nach
            you give me shelter for one night? That would be delightful.“ Den Text hatte ich mir im  Ruhe suchte, dachte und fühlte ich ein bisschen Stolz dabei: Bei welchem Weltstar hätte
            Bus überlegt. Bloß nicht die Berühmtheit erwähnen, dann fühlen sich die Berühmten  man auf dem Sofa schlafen dürfen? Und dann: Bei wem überhaupt?

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