Page 52 - AIT0123_E-Paper
P. 52

REDINGS ESSAY




                                 SCHARIE-AL-ARAB







                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            W     UMM! WUMM! WUMM! Ich hatte es nicht erwartet. Nicht gewusst. Am Schreib-  hasse nochmal Glück gehabt!“, grinste der Fan und gab mir einen harten Stoß gegen die
                                                                          Schulter. Baff! Eine Bierflasche zerplatzte vor den Ticket-Automaten. Die Bahnpolizei
                  tisch hatte ich gearbeitet, selbstvergessen, selbstversunken. WUMM! WUMM! Der
            Tisch zittert. Ich gehe zum Fenster, schaue in die nächtliche Stadt. Die Straße voller Men-  rannte los, er auch, ich auch, zu den Ausgängen. Ein junger Türke geriet dazwischen, hielt
            schen. Sie werfen Böller, zünden Silvesterraketen. Junge Menschen, die Arme gereckt,  die Fans auf. Jemand schrie: „Scheiß-Kanacke!“ Ich hatte die Ausgangstüren erreicht.
            Fahnen schwenkend, rufend, johlend, laut, ausgelassen, begeistert: „Dima Maghreb!“  Ein Sekundenblick zurück: Wieder flog eine Bierflasche, zerplatzte neben mir auf dem
            Was ist hier los? Ich kehre zum Schreibtisch zurück, suche nach „News“ im Internet. Und  Boden. Endlich, ich war draußen... PENG! Ein Silvesterböller trifft die Fensterscheibe.
            finde sie: „Dima Maghreb!“ Lang lebe Marokko! Marokko hat gewonnen! Gegen Portu-  Holt mich zurück aus den meinen Gedankenreisen. Ich öffne die Balkontür: frischer, ei-
            gal! Bei der WM 2022! Der erste afrikanische Staat im Halbfinale einer Fußball-Weltmei-  siger Wind, das Hotel gegenüber hell erleuchtet, die Gäste lehnen aus den Fenstern, be-
            sterschaft! Ich betrachte die TV- Bilder vom gerade beendeten Spiel: Sehe einen weinen-  staunen das wilde Gewoge auf der Straße, wie ich. Auto-Rückstau schon bis zum Hotel-
            den Ronaldo und marokkanische Nationalspieler, die wie von einem zu großen Ge-  eingang, Hupkonzert, teils begeistert, teils verärgert. Ein paar Blocks weiter Blaulicht der
            schenk überraschte Kinder kreuz und quer über das Spielfeld laufen, fassungslos vor  Polizei. Soll ich rausgehen? Schauen, wie die „Scharie–Al-Arab“ feiert? Aber was, wenn
            ihrer plötzlichen Bedeutung. Und ich lese Namen, die nun als die Underdogs, die den  die Stimmung plötzlich kippt, ich als „Alman“ erkannt werde, als doofer Deutscher, der
            Fußball-Titanen Portugal entthronten, vielleicht sogar volkstümlich werden: Hakim Ziy-  bei marokkanisch-arabischen Freudenfesten nichts verloren hat? Als Teil des Systems
            ech, Youssef En-Nesyri, Sofanie Boufal, Achraf Hakimi. Ich lese auch die Kritiken auf den  ausgemacht wird, das sie in den Jobcentern, den Sozialämtern, Polizeiwachen wieder
            Sportseiten, die natürlich alles voraussahen, mit den üblichen Begriffen, von „frischer  und wieder verzwergt, das ihnen, wenn überhaupt, nur ein Platz in der Gesellschaft ganz
            Spielfreude“ über „unverbrauchte Talente“ bis „echte Kämpfernaturen“ und sehe die  hinten, auf den billigen Stehplätzen mit schlechter Sicht gestattet, ganz gleich, wie be-
            Social-Media-Profile der neuen Stars, mit den üblichen,                             gründet alle Vorbehalte wegen Kiffen, Dealen, Handys
            längst zu fester Form erstarrten Images eines „Fußbal-                             Klauen auch sein mögen. Ich ziehe meine Winterjacke
            ler-Lifestyles“: Nationalspieler X auf Yacht im Mittel-                            an, ich gehe raus. Natürlich, schon vor der Haustür zer-
            meer, Nationalspieler Y im Pool eines 5-Sterne-Resort-                             schellt der erste Böller zwischen meinen Füßen. Zwei
            Hotels, Nationalspieler Z mit Model-Freundin vor sei-                              arabische Mädchen kichern, der Knallkörper galt wohl
            nem Porsche, Ferrari, Maserati, Lamborghini. Bilder der                            ihren Freunden, die auf der anderen Straßenseite die
            vielleicht vollkommensten Symbiose von Mensch, Wer-                                marokkanische Flagge schwenken. Die beiden Mädchen
            bung, Verkauf und Präsentation. Alles Private berührend                            sind unverschleiert, wie fast alle Frauen, die heute
            und in öffentlich wirksames Gold verwandelnd, Midas-                               Nacht auf der „Arabischen Straße“ unterwegs sind. Nach
            Königen gleich. BUMM! Und nochmal: BUMM-BUMM.                                      zwei, drei Straßenblöcken, vorbei an den Shisha-Cafés,
            Draußen explodieren Mega-Böller, werden Sprechchöre                                dem „Medina-Supermarkt“, dem „Damaskus-Grill“ und
            laut: „Arabia! Arabia!“ Berlin-Neukölln und speziell die                           dem „Lamsa-Geschenkartikel-Laden“ voller Koransuren
            Sonnenallee, die „Scharie-Al-Arab“, die „Arabische                                 in verschnörkelten Goldrahmen und Glitzer-Kronleuch-
            Straße“ gerät in einen Taumel. Soll ich rausgehen? Ein                             tern, die selbst in Versailles noch Eindruck schinden
            Name der „Marokko-Helden“ kommt mir bekannt vor:                                   könnten und den Fußballer-Lifestyle rührend imitieren,
            Achraf Hakimi, der spielte mal Abwehr im Team meiner                               erreiche ich das Auge des Orkans: Auf dem Dach eines
            Heimatstadt, dem BVB. „Echte Liebe“, mit diesem Slo-  Foto: Benjamin Reding        am Straßenrand geparkten Transporters stehen drei
            gan wirbt der Verein. „Echte Liebe“? Nicht immer ... Ein                           junge arabische Männer, über ihren Köpfen recken sie
            Samstag im Dortmunder Hauptbahnhof, vor Jahren, ich                                die palästinensische, die libanesische und auch die in
            kam zurück vom Shopping in der City. Brave Bürger rannten mir entgegen, ihre Einkaufs-  der Eile des Ereignisses aus rotem Tischtuch und schwarzen Klebeband improvisierte
            tüten schwangen wie Kugeln an ihren Handgelenken. Ihre Gesichter waren angespannt,  marokkanische Flagge. Sie rufen es in die wogende Menge und alle hier rufen es: „Dima
            irritiert, auch panisch, auch angeekelt. Sie rannten zu den Treppen, hoch auf die Bahn-  Maghreb!“ Und die Mitfeiernden recken die Smartphones, filmen alles mit, fangen den
            steige zu den Zügen, die wegfahren, weg aus der Gefahr. Und andere Gestalten rannten  Beweis, dass man dabei war, als man einmal Sieger, einmal Held, auch vielleicht einmal
            gerade deshalb hinunter, in die Bahnhofshalle, hinein in die Gefahr. Mit breitem Grinsen,  besser als die sonst so „allmächtigen“ Deutschen, dass man einmal, für eine Nacht, frei
            geballten Fäusten und hochroten Köpfen. Die Fans. Sie sangen. Nein, sie schrien, würg-  war. TA!TA!TAM! Mündungsfeuer aus Pistolen. In der Nähe irgendwo von einem Balkon,
            ten, grölten: „Olé, Olé, oléoléolé, Borussia Dortmund! BVB!“ ...Mist verdammter, heute  vor einer Shisha-Bar, in einem Hauseingang werden Freudenschüsse abgefeuert. Die
            war das Spiel. Revierderby! Borussia gegen den Erzfeind: Schalke 04. Jetzt nur nicht auf-  Leute johlen, jede Salve wird beklatscht. Angst vor Querschlägern hat hier wohl keiner,
            fallen... Ich quetschte mich am Rand der Treppe runter. Unten, in der Halle: alles hell  ich schon. Ich will mich zum Rückzug umwenden, da stellt sich jemand neben mich.
            neon, Bahnpolizei, Fan-Schals, der Geruch nach Zigaretten und Bier. „Ihr seid Schalker,  Einer dieser trainierten, stets hart dreinblickenden jungen Araber mit makellos getrimm-
            asoziale Schalker, ihr schlaft unter Brücken, oder in der Baaahnhofs-Missioooon!“ Die  tem Bart und „Fußballerfrisur“. Er betrachtet mich, kritisch, prüfend, schaut mir fest in
            BVB-Fans, die „Ultras“, suchten nach Schalkern, zum Verkloppen. Einer rempelte mich  Augen dabei. Ich erspüre in seinem Blick, dass er erkannt hat, dass ich ein Alman, ein
            an. Fan-Mütze, Fan-Schal, Fan-T-Shirt, alles verschwitzt, bekleckert, zerlaufen. „Na, wie  Deutscher bin. Dann, sehr ernsthaft, sehr würdevoll sagt er: „Danke, Bruder.“ Und geht
            haben wir gespielt?!“ „Wir...?“ Ich überlegte. Zu lange. „Ey, bist du etwa Schalker?“ Seine  weiter, die marokkanische Flagge schwenkend, zurück ins Gewoge der feiernden Men-
            Faust ballte sich. Jetzt hieß es schnell sein und lügen: „Klar, Borussia hat gewonnen!“  schen. Am folgenden Morgen titelt eine große Berliner Zeitung: „Arabische Fans machen
            Und ich grölte mit gequältem Lächeln: „Olé, olé, olé, Borussia Dortmund, olé!“ „Na, da  Randale auf der Sonnenallee.“ Nein, machten sie nicht.

            052 • AIT 1/2.2023
   47   48   49   50   51   52   53   54   55   56   57