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REDINGS ESSAY
SCHARIE-AL-ARAB
Ein Essay von Benjamin Reding
W UMM! WUMM! WUMM! Ich hatte es nicht erwartet. Nicht gewusst. Am Schreib- hasse nochmal Glück gehabt!“, grinste der Fan und gab mir einen harten Stoß gegen die
Schulter. Baff! Eine Bierflasche zerplatzte vor den Ticket-Automaten. Die Bahnpolizei
tisch hatte ich gearbeitet, selbstvergessen, selbstversunken. WUMM! WUMM! Der
Tisch zittert. Ich gehe zum Fenster, schaue in die nächtliche Stadt. Die Straße voller Men- rannte los, er auch, ich auch, zu den Ausgängen. Ein junger Türke geriet dazwischen, hielt
schen. Sie werfen Böller, zünden Silvesterraketen. Junge Menschen, die Arme gereckt, die Fans auf. Jemand schrie: „Scheiß-Kanacke!“ Ich hatte die Ausgangstüren erreicht.
Fahnen schwenkend, rufend, johlend, laut, ausgelassen, begeistert: „Dima Maghreb!“ Ein Sekundenblick zurück: Wieder flog eine Bierflasche, zerplatzte neben mir auf dem
Was ist hier los? Ich kehre zum Schreibtisch zurück, suche nach „News“ im Internet. Und Boden. Endlich, ich war draußen... PENG! Ein Silvesterböller trifft die Fensterscheibe.
finde sie: „Dima Maghreb!“ Lang lebe Marokko! Marokko hat gewonnen! Gegen Portu- Holt mich zurück aus den meinen Gedankenreisen. Ich öffne die Balkontür: frischer, ei-
gal! Bei der WM 2022! Der erste afrikanische Staat im Halbfinale einer Fußball-Weltmei- siger Wind, das Hotel gegenüber hell erleuchtet, die Gäste lehnen aus den Fenstern, be-
sterschaft! Ich betrachte die TV- Bilder vom gerade beendeten Spiel: Sehe einen weinen- staunen das wilde Gewoge auf der Straße, wie ich. Auto-Rückstau schon bis zum Hotel-
den Ronaldo und marokkanische Nationalspieler, die wie von einem zu großen Ge- eingang, Hupkonzert, teils begeistert, teils verärgert. Ein paar Blocks weiter Blaulicht der
schenk überraschte Kinder kreuz und quer über das Spielfeld laufen, fassungslos vor Polizei. Soll ich rausgehen? Schauen, wie die „Scharie–Al-Arab“ feiert? Aber was, wenn
ihrer plötzlichen Bedeutung. Und ich lese Namen, die nun als die Underdogs, die den die Stimmung plötzlich kippt, ich als „Alman“ erkannt werde, als doofer Deutscher, der
Fußball-Titanen Portugal entthronten, vielleicht sogar volkstümlich werden: Hakim Ziy- bei marokkanisch-arabischen Freudenfesten nichts verloren hat? Als Teil des Systems
ech, Youssef En-Nesyri, Sofanie Boufal, Achraf Hakimi. Ich lese auch die Kritiken auf den ausgemacht wird, das sie in den Jobcentern, den Sozialämtern, Polizeiwachen wieder
Sportseiten, die natürlich alles voraussahen, mit den üblichen Begriffen, von „frischer und wieder verzwergt, das ihnen, wenn überhaupt, nur ein Platz in der Gesellschaft ganz
Spielfreude“ über „unverbrauchte Talente“ bis „echte Kämpfernaturen“ und sehe die hinten, auf den billigen Stehplätzen mit schlechter Sicht gestattet, ganz gleich, wie be-
Social-Media-Profile der neuen Stars, mit den üblichen, gründet alle Vorbehalte wegen Kiffen, Dealen, Handys
längst zu fester Form erstarrten Images eines „Fußbal- Klauen auch sein mögen. Ich ziehe meine Winterjacke
ler-Lifestyles“: Nationalspieler X auf Yacht im Mittel- an, ich gehe raus. Natürlich, schon vor der Haustür zer-
meer, Nationalspieler Y im Pool eines 5-Sterne-Resort- schellt der erste Böller zwischen meinen Füßen. Zwei
Hotels, Nationalspieler Z mit Model-Freundin vor sei- arabische Mädchen kichern, der Knallkörper galt wohl
nem Porsche, Ferrari, Maserati, Lamborghini. Bilder der ihren Freunden, die auf der anderen Straßenseite die
vielleicht vollkommensten Symbiose von Mensch, Wer- marokkanische Flagge schwenken. Die beiden Mädchen
bung, Verkauf und Präsentation. Alles Private berührend sind unverschleiert, wie fast alle Frauen, die heute
und in öffentlich wirksames Gold verwandelnd, Midas- Nacht auf der „Arabischen Straße“ unterwegs sind. Nach
Königen gleich. BUMM! Und nochmal: BUMM-BUMM. zwei, drei Straßenblöcken, vorbei an den Shisha-Cafés,
Draußen explodieren Mega-Böller, werden Sprechchöre dem „Medina-Supermarkt“, dem „Damaskus-Grill“ und
laut: „Arabia! Arabia!“ Berlin-Neukölln und speziell die dem „Lamsa-Geschenkartikel-Laden“ voller Koransuren
Sonnenallee, die „Scharie-Al-Arab“, die „Arabische in verschnörkelten Goldrahmen und Glitzer-Kronleuch-
Straße“ gerät in einen Taumel. Soll ich rausgehen? Ein tern, die selbst in Versailles noch Eindruck schinden
Name der „Marokko-Helden“ kommt mir bekannt vor: könnten und den Fußballer-Lifestyle rührend imitieren,
Achraf Hakimi, der spielte mal Abwehr im Team meiner erreiche ich das Auge des Orkans: Auf dem Dach eines
Heimatstadt, dem BVB. „Echte Liebe“, mit diesem Slo- Foto: Benjamin Reding am Straßenrand geparkten Transporters stehen drei
gan wirbt der Verein. „Echte Liebe“? Nicht immer ... Ein junge arabische Männer, über ihren Köpfen recken sie
Samstag im Dortmunder Hauptbahnhof, vor Jahren, ich die palästinensische, die libanesische und auch die in
kam zurück vom Shopping in der City. Brave Bürger rannten mir entgegen, ihre Einkaufs- der Eile des Ereignisses aus rotem Tischtuch und schwarzen Klebeband improvisierte
tüten schwangen wie Kugeln an ihren Handgelenken. Ihre Gesichter waren angespannt, marokkanische Flagge. Sie rufen es in die wogende Menge und alle hier rufen es: „Dima
irritiert, auch panisch, auch angeekelt. Sie rannten zu den Treppen, hoch auf die Bahn- Maghreb!“ Und die Mitfeiernden recken die Smartphones, filmen alles mit, fangen den
steige zu den Zügen, die wegfahren, weg aus der Gefahr. Und andere Gestalten rannten Beweis, dass man dabei war, als man einmal Sieger, einmal Held, auch vielleicht einmal
gerade deshalb hinunter, in die Bahnhofshalle, hinein in die Gefahr. Mit breitem Grinsen, besser als die sonst so „allmächtigen“ Deutschen, dass man einmal, für eine Nacht, frei
geballten Fäusten und hochroten Köpfen. Die Fans. Sie sangen. Nein, sie schrien, würg- war. TA!TA!TAM! Mündungsfeuer aus Pistolen. In der Nähe irgendwo von einem Balkon,
ten, grölten: „Olé, Olé, oléoléolé, Borussia Dortmund! BVB!“ ...Mist verdammter, heute vor einer Shisha-Bar, in einem Hauseingang werden Freudenschüsse abgefeuert. Die
war das Spiel. Revierderby! Borussia gegen den Erzfeind: Schalke 04. Jetzt nur nicht auf- Leute johlen, jede Salve wird beklatscht. Angst vor Querschlägern hat hier wohl keiner,
fallen... Ich quetschte mich am Rand der Treppe runter. Unten, in der Halle: alles hell ich schon. Ich will mich zum Rückzug umwenden, da stellt sich jemand neben mich.
neon, Bahnpolizei, Fan-Schals, der Geruch nach Zigaretten und Bier. „Ihr seid Schalker, Einer dieser trainierten, stets hart dreinblickenden jungen Araber mit makellos getrimm-
asoziale Schalker, ihr schlaft unter Brücken, oder in der Baaahnhofs-Missioooon!“ Die tem Bart und „Fußballerfrisur“. Er betrachtet mich, kritisch, prüfend, schaut mir fest in
BVB-Fans, die „Ultras“, suchten nach Schalkern, zum Verkloppen. Einer rempelte mich Augen dabei. Ich erspüre in seinem Blick, dass er erkannt hat, dass ich ein Alman, ein
an. Fan-Mütze, Fan-Schal, Fan-T-Shirt, alles verschwitzt, bekleckert, zerlaufen. „Na, wie Deutscher bin. Dann, sehr ernsthaft, sehr würdevoll sagt er: „Danke, Bruder.“ Und geht
haben wir gespielt?!“ „Wir...?“ Ich überlegte. Zu lange. „Ey, bist du etwa Schalker?“ Seine weiter, die marokkanische Flagge schwenkend, zurück ins Gewoge der feiernden Men-
Faust ballte sich. Jetzt hieß es schnell sein und lügen: „Klar, Borussia hat gewonnen!“ schen. Am folgenden Morgen titelt eine große Berliner Zeitung: „Arabische Fans machen
Und ich grölte mit gequältem Lächeln: „Olé, olé, olé, Borussia Dortmund, olé!“ „Na, da Randale auf der Sonnenallee.“ Nein, machten sie nicht.
052 • AIT 1/2.2023