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REDINGS  ESSAY



                        SHOP DESIGN? OH NEIN!







                                                               Ein Essay von Benjamin Reding






               G   erüstbauer ist ein ehrenwerter Beruf. Gerüstbauer trinken zwar viel Bier, stemmen  eine schnelle, präzise Antwort: „In einem Laden für Sportklamotten und in einem Motor -
                                                                             rad laden.“ „Super!“ rief ich, überfroh, wie eine Grundschullehrerin bei den Lernerfolgen
                   Gewichte in der Mucki-Bude, sind schwer tätowiert und waren manchmal im Knast,
               aber ohne sie gäbe es, von ein paar Gartenlauben und Hundehütten abgesehen, keine  ihrer Erstklässler. „Und wie sahen die aus?“ „Wie ... aus?“ Er wiederholte die Frage, so als
               Architektur. Gerüstbauer sind wichtig, Gerüstbauer werden gebraucht. Mein Kumpel Lukas  hätte ich gefragt, ob die Erde eine Scheibe sei. „Na, wie war das Licht, welche Farben hat-
               ist Gerüstbauer. Und er trinkt reichlich Bier und trainiert in der Mucki-Bude und ist täto -  ten die Wände, die Decken, die Fußböden? Welche Materialien wurden verwendet, wo
               wiert und im Knast war er auch, aber das ist eine andere Geschichte. Lukas ist ein ehren-  standen die Regale, wo die Kasse, wo die Sonderangebote?“ Angespannt sog er die Luft
               werter Mann. Und er liest gerne. Was, sagt er nicht. Aber er sagt, er liest gerne. Das ist  ein,  wie eine Eisprinzessin  vor dem doppelten Rittberger,  wie ein  Torwart  vor dem
               schön, das freut mich, ein Gerüstbauer, der gerne liest. Das habe ich mir gemerkt. Und  Elfmeter schuss. Er legte seine Stirn in Falten und schien in den entlegensten Regionen
               dann, als der dritte Band unserer AIT-Kolumnen erschien, schenkte ich ihm, dem lesenden  seines Hirns nach Erinnerungsfetzen an Ladeneinrichtungen zu suchen. Dann atmete er
               Gerüstbauer, diesen dritten Kolumnen-Band: „Pretty Public“. Es war Spätsommer, es war  die ganze Luft auf einmal aus, Tschhhhh, es klang wie das Zischen beim Öffnen einer Cola-
               noch warm, er kam von der Arbeit, machte im Flur einen Handstand, um seine Kraft zu  Flasche mit Überdruck. „Na, es gab da die Sachen, die ich wollte.“ Jetzt lächelte er, irgend-
               beweisen, setzt   e sich auf den Balkon, rauchte, trank ein Bier, nahm das Buch, betrachtete  wie erlöst, befreit. „Aber es kann doch nicht sein, dass dort nichts gestaltet war? Lichter,
               es, von außen, von innen. „Ah Fotos“, sagte er und steckte es ein. Längst ist der Sommer  Far ben, Formen, Materialien, die gibt es doch überall, die nimmt man doch wahr?“ Seine
               Geschichte, längst weht der Schnee durch die Straßen, längst steht Lukas auf anderen  Augen wurden schmal, sein Blick düster. Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln: „Noch
               Gerüsten, arbeitet auf anderen Baustellen und ich an anderen Projekten.   ein Bier?“ Er spannte seine Muskeln, als müsse er sich ihrer Funktionstüchtig keit nach so
               Tingelingeling! Haustürklingeln am Nachmittag.                                          einem Gespräch vergewissern, und als sie sich
               Lukas kam  vorbei. Das erste Mal  wieder seit                                           wölbten  wie eh und je, lächelte er  zu frieden,
               dem Sommer. Setzte sich, streckte sich, trank ein                                       stand auf und ging. „Geht morgen um sechs wie -
               Bier, rauchte eine Selbstgedrehte, ließ genüss -                                        der raus, fettes Hängegerüst, Altbau mit Erkern,
               lich die Rauchwölkchen steigen, paff, paff, paff,                                       ziemlich kompliziert. Geile Arbeit, fetzt.“
               und ich wartete und schaute und wartete und                                             Am nächsten Tag zog ich los, fast heimlich, wie
               fragte dann doch, vorsichtig, aber hoffnungsvoll:                                       auf einem Kontrollgang. Er irrte sich, der Gerüst -
               „Und, hat es dir gefallen?“ „Das Buch?“ „Ja, das                                        bauer, gewiss, er übersah all die Schönheiten,
               Buch!“ Lukas überlegte, zögerte. „Also, man liest                                       das Design, die Gestaltung, die Kunst. Zu grob,
               die Geschichten schon bis zum Ende. Hab’ ich                                            zu roh, zu blind dafür. Der erste Laden war der
               auch gemacht.“ Er nickte und schaute mich wie                                           für Kampfsportbekleidung. Dunkelgrauer Filz -
               ein Kater an, der nach dem korrekten Gebrauch                                           tep pich, Raufasertapete, ein paar Baumarkt-
               des Katzenklos ein anerkennendes Streicheln er -                                        Ju gend zimmer-Lampen unter der Decke, ausge-
               wartet. „Ist halt was anderes, als ich sonst lese                                       musterte Kaufhausregale, bepackt mit Boxhand -
               ... viel Architektur drin.“ Dann wurde es still, er                                     schuhen, Turnschuhen, T-Shirts.  An  den  Wän -
               drehte sich die nächste  Zigarette, betrachtete                                         den Plakate  von Kickboxkämpfen, Fotos  von
               prüfend seine Arbeitskluft, das Bieretikett, den Foto: Benjamin Reding (mit Dank an AsiaSport.Kampfsportartikel, Berlin)  Kickboxern und ein Poster mit Bruce Lee. Klein
               Benzinvorrat in seinem Feuerzeug, die Kratzer                                           war der Laden und gut besucht. Ernste, junge
               im Parkettboden. „Müsste mal geschliffen wer-                                           Männer, die kon zentriert Boxhandschuhe und
               den.“ Was nur, was hatte sich der Gerüstbauer,                                          Bandagen aus den Fächern  zogen und knapp
               ohne den es keine Banken und Behörden, keine                                            und präzise nach Größen, Marken, Herkunft und
               Schulen und Büros, keine Einkaufszentren und                                            Verarbeitung frag ten. Damit gingen sie  zum
               Rathäuser, keine Museen und  Theater, keine                                             Kassentisch (einem Rechteck aus Laminat-Plat -
               Schwimmhallen und Stadien, überhaupt keine Architektur und auch keine, über die die  ten) und zahlten. Und ich fuhr weiter, auf der großen Ausfallstraße zum Motorrad-Shop.
               AIT und auch ich in meinen Essays schreiben könnte, gewünscht? Berichte über die  Es gab dort viele Schau fenster, aber sie waren nicht gestaltet, sie waren zugeklebt. Weil
               neuesten Gerüst-Steckverbindungen? Über die japanischen Tätowierungen, die er hatte?  dahinter Super markt regale standen, in denen sich Motorradhelme, Motorradöle, Motor -
               Die Enduro-Motorräder, die er fuhr? Die Biersorten, die er trank?  Das Kickboxen, das er  radjacken sauber ne beneinanderreihten. Und ja, das Ganze sah wirklich wie ein Super -
               be herrschte? Oder über die „Sweet Ladys“ (er sagte immer „Sweet  Ladys“), die ihm ge -  markt aus: grauer Linoleumboden, kaltes Neonlicht, weiße Wände. Aber ein Supermarkt
               fie len? Ich musste ihn fragen: „Worüber soll ich meine nächste Kolumne schreiben?“ Er  von 1977! Ich kaufte, ich wusste nicht, was sonst, eine Dose Lederfett und dachte be -
               schaute mich an, mit Unbehagen, es blieb also beim leidigen Buch-Thema. „Im nächsten  schämt: Mensch, der Gerüst bauer hat die Wahrheit gesagt.
               AIT-Heft wird es um Retail, also Läden, Verkaufen, Shop Design gehen.“ „Uh ...“, er kratzte  Heute kam er  wieder, nach der Arbeit, seine rechte Hand  war geschwollen. „Ver -
               sich die Bartstoppeln, dann kam ein Grunzen. Es klang wie „hmmm“ oder „hrrr“ oder „Oh  knackst“, sagte er und setzte sich, rauchte seine Zigarette und trank sein Bier. Ein Buch
               nein, frag mich nicht, ich will nur gemütlich ein Feierabendbier trinken und mich nicht zu  lugte aus der Innentasche seiner Arbeitskluft.  Es sah fleckig, es sah gelesen aus. „Pretty
               so seltsamen Dingen wie Büchern, Kolumnen, Ladengestaltung und Architektur äußern  Public“, mein Buch. „Und, hast du dir Gedanken gemacht, worüber ich meine nächste
               müssen.“ „Was hast du denn so gekauft, in der letzten Zeit?“ Ich versuchte es auf die  Kolumne schreiben soll?“ „Über einen Gerüstbauer. Und nicht so viel Archi tektur.“ Er
               harmlose Tour. Und tatsächlich, es kam eine Antwort, schnell sogar und präzise: „Eine  lächelte und gab mir einen kumpeligen Stoß gegen die Brust; ich fiel fast nach hinten
               Kickbox-Trainingshose und einen Motorradhelm.“ „Und wo hast du das gekauft?“ Wieder  dabei. „Versprochen“, sagte ich.


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