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SERIEN STUDENTENARBEIT  •  STUDENT WORK



                                                                             Nicole Müller: Tür
                                                                             Ein Dorf in den Bergen. Ein Grundstück, zwei Häuser. Eines bereits über Jahre hinweg
                                                                             dem  Zahn der  Zeit ausgesetzt; das andere, als  wurde es gerade erst  von seiner
                                                                             Schalung befreit. Getrennt durch zwei Eingänge, verbunden durch einen Garten:
                                                                             Die Sonne weist mir die Richtung, erhellt die Tür und taucht den Rest in fleckiges
                                                                             Dunkel. Das Holz der Tür ist warm und rau. In der Berührung wird es zum Zeugen der
                                                                             vielen Jahre, in denen es der Witterung ausgesetzt war. Die Zeit hat gutgetan! Sprünge
                                                                             in der Oberfläche teilen die Tür in rhythmische Bereiche. Die Sonne wirft ordnende
                                                                             Schatten. Ruhe und Musik zugleich! Der Bogen über der Tür ist leicht vorgebeugt wie
                                                                             eine Schirmmütze, die man sich bei leichtem Regen tiefer ins Gesicht zieht. Dadurch
                                                                             wieder Schatten, sanft und weich. Das Türschloss ist alt. Einen Schlüssel gibt es ver-
                                                                             mutlich schon lange nicht mehr. Ein kurzer kräftiger Ruck, ein Flügel der Tür springt
                                                                             auf. Ich trete hinein und hinter mir fällt die Tür krachend zurück ins Schloss. Ich
                                                                             werde umhüllt von der Kühle des alten Hauses.
                                                                             Im Garten stehe ich vor einer weiteren Tür. Ein einfaches, rechteckiges Loch in der
                                                                             rauen Beton wand, die sich dem Himmel entgegenreckt. Die Tür stattdessen ist weich,
                                                                             fast glatt, aber ebenfalls ehrfürchtig hoch. Breit genug, dass mehrere Personen zur sel-
                                                                             ben Zeit hindurchgehen könnten. Im Schein der Sonne wirkt sie auffordernd leuch-
                                                                             tend. Schlicht und Stolz füllt sie die Aussparung in der steinernen Wand. Stolz, weil
                                                                             sie weiß, es reicht allein die Wärme, die sie der kalten Wand entgegenbringt, um auf
                                                                             sich aufmerksam zu machen. So bleibt sie eckig, teilt sich fast schon schüchtern in
                                                                             zwei Teile. Als Ornament reicht die Maserung des Holzes. Es wirkt wie feine Seide, die
                                                                             vertikale Falten wirft. Lediglich geschmückt durch das Nützliche: Türgriff, Schloss und
                                                                             Scharnier schmiegen sich dezent an. Ihre Schwelle ist leicht erhöht. So hebe ich
                                                                             bewusst den Fuß, als ich hindurch trete. Grober, grauer Stein wird zu festem, glattem
               Nicole Müller auf der Brüstungsmauer der Pergola: Von hier aus hatte sie ihr Element, die Tür, fest im Blick.  Untergrund, während die Tür hinter mir fast lautlos schließt.
                                                                             Ein Dorf in den Bergen. Ein Grundstück, zwei Häuser, zwei Eingänge. Einer bereits
                                                                             über Jahre hinweg dem Zahn der Zeit ausgesetzt; der andere, als wäre er gerade erst
                                                                             in die Öffnung gefügt  worden. Getrennt durch  viele Jahre,  verbunden durch das
                                                                             Selbstverständliche.





               Durch sein Fenster im obersten Turmzimmer genoss Philipp Schaugg eine ungestörte Aussicht nach Italien.  Philipp Schaugg: Fenster
                                                                             Über Architektur schreiben! Das heißt, von phänomenologischen Betrachtungen und
                                                                             theoretischen Reflexionen berichten. In diesem Fall über ein Fenster, seinen konkreten
                                                                             baulichen Zusammenhang und über freie Assoziationen schreiben. Es beginnt mit einer
                                                                             frühen Ankunft: Die Über windung des Bergpasses mit dem Automobil lässt Regionen,
                                                                             die nebeneinanderstehen, verschiedener erscheinen, als sie es wären, wenn sie durch
                                                                             einen Tunnel oder mit dem Flugzeug verbunden wären. Der Pass ist eine Schwelle oder
                                                                             gar ein Bruch in der Wahrnehmung von Raum. Die Betrachtung durch eine Wind schutz -
                                                                             scheibe schützt vor Fahrtwinden, doch fixiert sie auch auf die unmittelbar bevorstehen-
                                                                             de Situation. Öffnet man die Seitenfenster des Autos, gibt man sich einem momenta-
                                                                             nen Schock hin. Der Fahrtwind bläst mit Wucht ins Auto, die Wirkung von Klimaanlage,
                                                                             Tem peraturregelung und Feinstaubfilter, die Trennung zwischen innen und außen, ver-
                                                                             schwimmt. Die Bergluft strömt jetzt direkt ins Auto. Die noch bestehende Distanz zur
                                                                             Außenwelt geht verloren. Hinter dem Pass: das Bergell. Im Winter gibt es im schmalen
                                                                             Tal nur indirektes Sonnenlicht. Die Arbeit erfolgt dann auch am Tag unter zusätzlichem,
                                                                             künstlichem Licht. Alberto Giacometti, der nur wenige Kilometer von der Villa Garbald
                                                                             geboren und aufgewachsen ist, kehrte in den dunklen Wintermonaten oft ins Bergell
                                                                             zurück. Dann  zeichnete er seine Porträts in dieser besonderen Lichtsituation: dem
                                                                             dunklen, bläulichen, indirekten Tageslicht, das durchs Fenster kam, und des rötlichen
                                                                             Lichts einer Gaslaterne. Mein Zimmer im Roccolo von Miller & Maranta, dem Wohn -
                                                                             turm im Garten der Villa Garbald, liegt im obersten Stockwerk. Aus meinem Fenster
                                                                             geht der Blick ungehindert das  Tal hinab bis nach Italien. Im  Verhältnis  zu den
                                                                             Fassaden nimmt die addierte Fläche aller Fenster des Ge bäudes ungefähr ein Viertel
                                                                             der Wandfläche ein. Die Fenster liegen stets 20 Zenti meter hinter der Oberfläche der
                                                                             Fassade zurückversetzt. Die äußere Fensterbank steht hingegen 3,5 Zentimeter über.
                                                                             Die aufgedoppelten Iso lier glasscheiben der quadratischen Fenster flügel haben eine
                                                                             Kantenlänge von 113 Zentime tern. Ihre hölzernen Rahmen sind genau zehn Zentimeter
                                                                             breit, immer! Im gleichen Maß liegen die Fenster auch im Inneren hinter der Wand
                                                                             zurück. Und obwohl es identisch mit den anderen 39 quadratischen Fenstern des Ge -
                                                                             bäudes ist, so bietet doch nur „mein“ Fenster den allerschönsten Ausblick.


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