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SERIEN STUDENTENARBEIT • STUDENT WORK
Victor Loff: Pergola
Ich sitze vor der Hauswand auf einer Bank im Freien und fühle mich in diesem Mo ment
geborgen wie selten. Mein Platz ist von mächtigen Pfeilern gesäumt, die über mir ein
Dach aus Ranken, Blättern und Früchten tragen. Wie ein Schutzwall zur Straße hin
erhebt sich vor mir die Brüstung. Aus ihr heraus wachsen die massiven Stützen, die das
Holz der Pergola in die Höhe stemmen. Ein handbreiter Sims aus Na turstein liegt auf der
Brüstung auf. Es ist derselbe Stein, der auch als Kapitell für die Pfeiler verwendet wurde.
Es ist schon bemerkenswert, welche Ruhe und Gelas senheit die Pfeiler ausstrahlen. Sie
ste hen dort, als hätte es sie schon immer gegeben. Ein ockerfarbener Putz bedeckt ihre
Ober flächen. Der Lauf der Zeit hat schon seine Spu ren hinterlassen und nagt an der
Farbe. Ich nehme dunkle Flecken an den Kanten der Pfeiler und der Brüstung wahr. Sie
stören mich nicht weiter! Auch in den Maserungen und dunklen Rissen auf den müde
gewordenen Holzbalken über mir erkenne ich nichts Störendes. Vielmehr erscheinen
mir die Holzoberflächen wie das verblasste Antlitz eines sanften Greises mit Falten und
grauen Haaren. Durch die vielen Jahre sind die Ranken der Weinreben zu dicken Stäm -
men herangewachsen und lehnen sich nun stützend an die Pfeiler. Ihre Liebe erwidert
die Pergola, indem sie den Pflanzen gestattet, ihr Blätterwerk auf die Holzbalken abzu-
legen. Natur und Architektur gehen eine Sym biose ein! Sie profitieren voneinander! Für
einen Augenblick scheint mir, dies alles sei für die Ewigkeit gemacht, auch wenn ich mir
bewusst bin, dass die Zeit alle Dinge der Welt irgendwann zu Fall bringt. Von der Straße
aus betrachtet, bildet die horizontal gelagerte Pergola ein Gegenstück zur Vertikalität der
hoch aufschießenden Villa Garbald. Sie ist die räumlich gefasste Schwelle zwischen der
öffentlichen Straße und der zurückversetzten Eingangstür und zugleich das verbindende
Element von Haus und Garten. Kurz: Sie ist ein Mittler zwischen Innen- und Außenraum,
zwischen Natur und Kultur. Sie grenzt die Villa zu ihrer Umgebung, den bedrohlich
Victor Loff an seinem „Schreibtisch“ im Garten – umgeben von Semper-Villa, Pergola und neuem Wohnturm. hohen Ge birgs zügen des Bergell, ab und bereitet doch zu gleich von außen auf die
Architektur vor. Alt und gebrochen, jedoch zeitlos und schön umgibt sie mich. Sie möch-
te mich umarmen, nicht mehr loslassen. Sie weist mir einen sicheren Platz in der Welt
zu und geleitet mich auch noch, als ich zum Abendessen aufbreche, mit dem vertrauten
Knirschen ihrer weißen Kiesschüttung unter meinen Füßen.
Tobias Kappelhoff arbeitete am liebsten im Salon und beschäftigte sich hier mit dem Dach der Villa Garbald. Tobias Kappelhoff: Dach
Bei einer Wanderung blicke ich von der anderen Talseite aus hinüber auf die Dächer
von Castasegna. Ein Dach sticht besonders heraus. Es ist das Dach der Villa Garbald.
Zurück im Ort stehe ich der Villa unmittelbar gegenüber und schaue mir ihr Dach
genauer an. Auf den ersten Blick trägt das Haus ein einfaches Satteldach, wie es einem
in dieser Region als ursprünglichste Form eines Daches vielfach entgegentritt. Selbst
die Tragstruktur aus nur grob bearbeiteten Holzstämmen und die schwere Dach -
eindeckung aus zentimeterdicken Steinplatten, die wie Fischschuppen aussehen, sind
in diesem Landstrich keine Besonderheiten. Aber etwa ist anders! Zum einen kragt das
Dach der Villa deutlich weiter aus als die Dächer auf den Nach bargebäuden, zum
anderen ruht es nicht direkt auf den Mauern auf wie bei den umliegenden Häusern.
Viel mehr scheint es – abgesetzt durch einen offenen Tro ckenboden, einen Solaio – über
dem Hauskörper zu schweben. Das sind zwei sehr eigenständige und selbstbewusste
Gesten! Sie verändern die Wahrnehmung und den Ausdruck des Hauses. Mir scheint,
als würde das Dach laut und deutlich sagen: Hier walte ich! Ja, das ist es, was das
Dach der Villa Garbald mit seiner vom Baukörper losgelösten Erscheinung und seiner
Auskragung dem Betrachter sagen möchte! Ich erinnere mich: Ein paar Tage zuvor
hatte ich einen kleinen Holzstapel am Wegesrand gesehen. Er war mit einem großen
Blech abgedeckt, um das Holz vor der Witterung zu schützen. Das Blech machte jedoch
noch etwas anderes: Es gab mir deutlich zu erkennen, dass dieses Holz jemandem
gehörte. Es waltete stellvertretend über dem Holz. Es ist dieser Ausdruck des Waltens
– ein passenderes Wort finde ich nicht –, dass auch den Charakter des Daches der Villa
Garbald bestimmt. Es stellt sich mit ganzer Kraft auf und kragt weit über den Ge -
bäudekörper hinaus, um so seiner Aufgabe als Ab schluss des Hauses mit aller
Deutlichkeit gerecht zu werden. Es ist mehr symbolische als rationale Form. Und noch
eine besondere Fähigkeit besitzt dieses Dach: Ich kann unter das Dach hinaufsteigen,
ohne vollständig von den Elementen abgeschirmt zu sein, denn der zu den Giebel -
seiten offene Dachstuhl lässt jederzeit Wind und Wetter spürbar werden. Damit gleicht
der Dachraum mehr einer gedeckten Terrasse. Es ist ein Sommerwohnzimmer – halb
drinnen, halb draußen und weit oben, losgelöst vom Erdboden. Herrlich!
052 • AIT 12.2019