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SERIEN LEHRJAHRE BEI ... • WORKING AT ...
gut zurecht. Die durchschnittlichen Gehälter sind wesentlich niedriger als in
Deutschland – der Mindestlohn liegt bei etwas über drei Euro pro Stunde. Wohn-
raum ist günstiger als in Deutschland, aber Lebensmittel liegen preislich auf einem
ähnlichen Niveau. Zusätzlich zu meinem Praktikumsgehalt erhielt ich Unterstützung
über das Programm Erasmus+, das auch Praktika fördert.
r Durch die gut erhaltene historische Altstadt Tallinns und die Wiederbelebung
des Rottermani-Industrieareals hat das Bauen im Bestand eine große Bedeutung.
Wie erlebten Sie die Stadt im Spannungsfeld von Tradition und Moderne?
Das ist eine Qualität, die für mich Tallinn ausmacht: Altes wird nicht künstlich erhal-
ten oder rekonstruiert, sondern zeitgemäß weiterentwickelt und -genutzt, nicht zu-
letzt durch Koko Architects. In der Architektur sind diese Eingriffe ablesbar. Zeitge-
nössische und historische Architektur existieren in harmonischem Zusammenspiel.
Sie stehlen sich nicht gegenseitig die Show, sondern ergänzen sich. Die Architektur
spiegelt die generelle Entwicklung des Landes wider, zeigt die Experimentierfreude
und auch, wie das Land in den vergangenen 30 Jahren aufgeblüht ist. Noch lange ist
Foto: Koko Architects nicht alles fertig, aber es ist spannend, gerade das Unfertige und die stetige Entwick-
lung zu erleben. Weiterhin sind einzelne Straßen und Orte von der sowjetischen Be-
Fahle House Tallinn: Aufstockung einer einstigen Papierfabrik • Expansion of a former paper factory satzung geprägt. Darin spiegelt sich gut die Geschichte des Landes wider.
r Und welche zeitgenössischen und historischen Gebäude und Orte können Sie
Wettbewerb für ein Bürogebäude in Tartu • Competition for an office building in Tartu Besuchern konkret ans Herz legen?
In Tallinn würde ich als Erstes einen Besuch der gut erhaltenen Altstadt empfehlen.
Dann würde ich Richtung Telliskivi Loomelinnak, das ist ein Kreativviertel, laufen
und dabei noch im Rottermanni Kvartal am Architekturmuseum und dem Balti
Jaama Turg, der von Koko Architects transformierten Markthalle, vorbeischauen.
Sehr spannend ist die Stadthalle, eine Multifunktionshalle aus der Sowjetzeit, direkt
am Meer. Auch das von Holzbauten geprägte Viertel Kalamaja ist schön. Nordwest-
lich von Kalamaja liegt Noblessner, ein ehemaliges Werftgelände, das momentan re-
vitalisiert wird. Dort trifft zeitgenössische ebenfalls auf industrielle historische Archi-
tektur. Unweit von Noblessner liegen das von Koko Architects konzipierte Estnische
Seefahrtsmuseum, ein ehemaliger Seeflughafen mit beeindruckender Kuppelkon-
struktion aus Beton, sowie das Patarei-Gefängnis, ebenfalls ein monumentaler Bau,
der an den sowjetischen Terror erinnert. Ein wenig entfernt von der Altstadt ist das
Viertel Kadriorg mit dem gleichnamigen Schloss einen Besuch wert, darüber hinaus
das Kunstmuseum KuMu und die Sängertribüne. Außerhalb von Tallinn würde ich
Renderings: Koko Architects auf jeden Fall das Estnische Nationalmuseum in Tartu (Rahva muuseum) empfehlen.
Das Gebäude stellt eine Verlängerung einer Start- und Landebahn auf einer einstigen
sowjetischen Militärbasis dar. In Narva ist das Gebäude des Narva College am Rat-
hausplatz sehenswert. Bemerkenswert finde ich nicht zuletzt die Gutshöfe, die es im
ländlichen Bereich noch aus der deutschen und schwedischen Besatzungszeit gibt.
r Was macht für Sie die Lebensqualität von Tallinn und Estland aus, insbeson-
dere aufgrund der interessanten geografischen Lage zwischen Lettland und Russ-
Wettbewerb für ein Mehrparteienhaus in Tallinn • Competition for an apartment building in Tallinn land, zwischen Finnischem Meerbusen und Ostsee?
Tallinn ist eine sich ständig entwickelnde Stadt. Jedes Mal, wenn ich dort bin, gibt
es Neues zu entdecken, zum Beispiel Restaurants, Bars oder Boutiquen, manchmal
sogar ganz neue Stadtteile. In Tallinn begegnen sich Moderne, Mittelalter, Kultur, Tra-
dition und Start-ups. Die Stadt ist vor allem aufgrund ihrer Größe leicht zu bereisen.
Man erreicht das meiste fußläufig und selbst die Anfahrt vom Flughafen in die In-
nenstadt dauert mit der Tram nur rund 20 Minuten. Eine besondere Qualität macht
die Lage an der Küste aus. Es gibt Stadtstrände oder ein wenig außerhalb ganz ein-
same Strandabschnitte. Mit der Fähre kann man schnell Helsinki erreichen. Durch
seine Kompaktheit lässt sich Estland sehr gut erkunden: auf der Fläche der Nieder-
lande lebt die Einwohnerzahl Münchens. Dabei ist das Land sehr vielseitig. Im Nor-
den und Westen zieht sich die wunderschöne Küste entlang, während im Landesin-
neren Seen und Wälder dominieren. Im Osten, an der russischen Grenze, liegt Narva,
eine sehr russisch geprägte Stadt, die einen starken Kontrast zum Rest des Landes
bildet. Weiter südlich befindet sich der Peipussee, der fünftgrößte See Europas,
durch den die EU-Außengrenze zu Russland verläuft. Vergangenen Sommer war ich
zum ersten Mal dort und war beeindruckt. Der See ist so groß! Man denkt, man
stünde am Meer! Am Ufer des Sees gibt es Dörfer, in denen sich Altgläubige angesie-
delt haben. Diese Orte sind durch ihre ursprüngliche Kultur und Religion geprägt.
044 • AIT 11.2019