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Reduktion

                                                                                                         auf das

                                                                                                         konstruktive

                                                                                                         Minimum.






























                Der Speisesaal im alten Waschhaus bildet ein Scharnier zwischen Alt- und Neubau. • The dining room in the old washhouse links the old and the new.



                von • by Dr. Uwe Bresan
                D   er Regen fällt in dicken Schnüren senkrecht vom  Gottfried Semper; sein einziges südlich der Alpen! Als er
                    Himmel. Es ist schnell dunkel geworden und das Ge-
                                                         1862 den Auftrag erhielt, war er schon einige Jahre als Pro-
                wittergrollen hallt zwischen den hohen Bergspitzen wider.  fessor in Zürich tätig und zu jener Zeit durchaus viel be-
                Morgen früh wird die Passstraße, über die wir gerade ins  schäftigt. Trotzdem nahm er den im Vergleich kleinen und
                Tal gekommen sind, wegen einer Schlammlawine ge-  äußerst bescheidenen Auftrag umstandslos an. Den Bau-
                sperrt sein. Dreieinhalb Stunden hat die Fahrt von Zürich  platz hat er nie gesehen! Auf seiner letzten Italienreise
                über Julier- und Malojapass gedauert. Jetzt empfangen  aber hatte er sich in den Typus der Villa Rustica, des ein-
                uns die freundlichen Stimmen und Gesichter von Siska  fachen und schmucklosen norditalienischen Landhauses,
                Willaert und Arnout Hostens. Sie sind für die kommenden  das nur durch seine feinen Proportionen, Volumina und
                Tage unsere Gastgeber. Sie selber nennen sich – neu-  Dachwinkel besticht, verliebt. Dass jenes pittoreske Mo-
                deutsch – Hosts. Und wäre der Begriff nicht durch die vie-  dell nur mehr schlecht als recht in die raue Umgebung des
                len verkorksten Erfahrungen der eigenen Jugend so unan-  Bergells passt, interessierte Semper nicht. Das Tal ist eng
                genehm besetzt, man würde Willaert und Hostens wohl  und von hohen bewaldeten Hängen umgeben. Über der
                mit gutem Recht als unserer Herbergseltern bezeichnen.  Baumgrenze schießen scharfe Felsgrate in die Höhe. Die
                Sie sind die guten Geister des Hauses. – Während ich das  Dörfer erstrecken sich entlang der Hauptstraße; die Mera
                schreibe, ist Hostens gerade dabei, die Unwetterschäden  fließt an ihrer Seite. Castasegna ist die letzte Siedlung vor
                der letzten Nacht zu beseitigen. Still und sichtlich darum  der Grenze zu Italien; die Villa Garbald eines der letzten
                bemüht, mich nicht zu stören, räumt er um mich herum  Häuser auf Schweizer Seite. Typisch für den Ort sind zum  Büroraum, Kommunikationszone, Think Tank:
                den Garten und die Terrasse auf; wischt Tische und Stühle  einen die massigen Engadiner Bauernhäuser und Stallge-
                                                                                                       Trennwandsysteme, Raum-in-Raum und
                trocken; sammelt Äste und Blätter auf und stellt die wei-  bäude mit ihren wuchtigen, ge mauer ten Eckpfeilern, ihren
                ßen Sonnenliegen auf den Rasen. – Gestern Nacht haben  massiven Holzausfachungen und den flach geneigten Sat-  Akustiklösungen von Strähle  sind viel-
                sie uns noch die Zimmer gezeigt und sich nach unseren  teldächern; zum anderen die drei- bis viergeschossigen,  fältig und individuell gestaltbar. Für den
                Frühstückswünschen erkundigt. Dann waren sie, ohne  kompakten und  von flachen  Walmdächern bekrönten
                                                                                                       Grundriss von heute. Und morgen.
                weiteres Aufheben zu machen, verschwunden. Das Haus  Bürgerhäuser und Palazzi des 18. und 19. Jahrhunderts.
                                                                                                       Informationen unter www.straehle.de
                gehört in den nächsten Tagen uns!        Dazwischen wirkt das Semperhaus aus der Campagna
                                                         immer ein bisschen wie die mondäne Tante aus der Stadt
                Der Zolldirektor und seine Poetessa      auf Sommerfrische bei den Verwandten vom Dorf. Immer-
                                                         hin gab Semper der Villa noch das typische Steindach der
                Seit 15 Jahren nutzt die ETH Zürich die Villa Garbald als  Nachbarn mit, weshalb spätere Architekturhistoriker und
                Studienzentrum – für Seminare, Workshops und Tagun-  Denkmalpfleger dem Haus allzu bereitwillig den Stempel
                gen. Diese Woche nun – in der Schweiz sind Semesterfe-  des „regionalistischen Bauens“ aufdrückten. Genau hin-
                rien – dürfen wir mit einer Gruppe Studenten der Univer-  geschaut hatten sie nicht! Genauso wenig wie die Bauher-
                sität Stuttgart zu Gast sein! Die Villa Garbald ist ein Werk  ren! Die kamen aus dem nass-kalten Klima des Oberen-
                des berühmten Architekten und Architekturtheoretikers  gadin und träumten beim Namen Castasegna wohl schon
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