Page 3 - AIT0923_Kuenstler
P. 3
SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
Meine Naturpanoramen und die Momente der Zeitgeschichte, die das kollektive Gedächtnis
ansprechen, zeigen, dass viele Katastrophen dieser Welt oft menschengemacht sind. Das ist
ein absolutes Phänomen und eine Erzählung, die in vielen meiner Arbeiten auftaucht, aber
nicht unbedingt offensichtlich ist. In meinem Titanic-Panorama erzähle ich beispielsweise
nicht den offensichtlichen Ablauf der Katastrophe. Bei New York 9/11 zeige ich auch nicht
die Flugzeuge, sondern baue eher auf die Suggestionskraft der BesucherInnen. Wenn ich
Natur abbilde, versuche ich, ihre unfassbare Schönheit darzustellen, soweit das überhaupt
möglich ist. Ein weiterer Themenstrang beschäftigt sich mit unserer Wahrnehmung und
der Kunst an sich. Im Panometer Leipzig wird es ab Frühjahr 2024 ein Panorama zum
Impressionismus geben. Darin werde ich über das Malen an sich sprechen, über Sinn und
Zweck und meinen subjektiven Blick auf die Malerei. Außerdem arbeite ich an einem Bild
über die Romantik. Diese längst vergangene Epoche passt meiner Meinung nach sehr gut in
unsere Zeit, in der technische Neuerungen wie Künstliche Intelligenz das Selbstverständnis
vieler Kunstschaffenden auf die Probe stellen.
r In einer immer digitaleren, aber letztlich zweidimensional bleibenden Welt der
Illusionen an Laptop, PC und Handy sind Ihre 360°-Panoramen Ganzkörper- und
Sinneserfahrungen. Welche Sehnsüchte werden dabei – gerade heute – gestillt?
Das ist eine spannende Frage. Ich sehe das ein bisschen als Gegenentwurf zum heutigen
Trend der Beschleunigung und der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen.
Im Panorama arbeiten wir mit Stillstand und Verlangsamung. Die BetrachterInnen können
sich zwar völlig frei bewegen, stehen aber still, um das Bild zu betrachten. Diese Ruhe
Foto: Copyright Asisi und die Tatsache, von einem riesigen Bild umgeben zu sein, ermöglichen es, sich auf
sehr komplexe Dinge einzulassen und stundenlang in diesem Kunstraum zu verweilen.
gibt aber auch Menschen, die zwei, drei oder sogar vier Stunden im Panorama verbringen.
Anamorphose des Pergamon-Tempels in der Ausstellung: nur aus einem bestimmten Blickwinkel korrekt zu sehen Durchschnittlich bleiben die Besucher und Besucherinnen etwas mehr als eine Stunde. Es
Es ist ein emotional aktivierendes, ein körperliches Gefühl. Ein Gefühl, das dafür sorgt,
Vorarbeiten für „Pergamon“ in Bergama – dem früheren Pergamon – in der Provinz Izmir in der Türkei dass sich viele noch Jahre später an Details und das Erlebte erinnern. Im Panorama ist
man im Gegensatz zu vielen anderen Medien der Regisseur seines eigenen Sehens.
r Ihre Panoramen mit über 30 Metern Höhe und 100 Metern Umfang sind keine
Projektionen. Wie werden diese gewaltigen Bildwände denn technisch realisiert?
Das ist ein sehr komplexer Vorgang, und ich kann hier bei Weitem nicht auf alle Aspekte
eingehen. Es ist ein Zusammenspiel unzähliger Komponenten. Am Ende sind die Bilder,
die entstehen, fast immer realistisch, aber doch sehr inszeniert und komponiert. Am
Anfang steht eine Skizze von mir, die den gesamten Raum und die groben Strukturen
darstellt. Auf dieser Basis entstehen viele weitere zeichnerische Studien und aufwendige
digitale 3D-Modelle, die in jahrelanger Arbeit mit Fotografien, Texturen und vielen
anderen Bildinhalten komponiert werden. Sind viele Personen im Bild, werden diese
in aufwendigen Fotoshootings choreografiert, kostümiert und fotografiert. Ähnlich
wie bei einer Filmproduktion. Das Bild wird schließlich in einem jahrelang erprobten
Verfahren auf Stoffbahnen gedruckt, genäht und zusammen mit einer speziellen
Foto: Copyright Asisi Licht- und Toninszenierung unter meiner Regie im Ausstellungsraum installiert. Das
ist sowohl technisch als auch künstlerisch ein sehr anspruchsvoller Prozess. Allein die
Herausforderung, eine zylindrische Leinwand von über 30 Metern Höhe und 100 Metern
Umfang zu spannen und die Statik für den jeweiligen Ausstellungsort richtig zu berechnen,
Fotoshooting für „Pergamon“ mit Komparsen: So erhält das Panorama seine realistische Wirkung. ist immens. Ich habe allerdings das Glück, mit einigen der größten Koryphäen ihres Fachs
zusammenarbeiten zu dürfen. Wir sind ein eingespieltes Team.
r Und wie aufwendig sind denn Vor- und Recherchearbeiten zu einem Projekt – vor
Ort, in Kooperation mit Projektpartnern, Wissenschaftlern und Ihrem Team?
Der Prozess dauert immer einige Jahre. Mein Team besteht aus einem Kernteam von
ungefähr 15 MitarbeiterInnen und weiteren ProjektpartnerInnen, SpezialistInnen und
KünstlerInnen. Dazu gehören Eric Babak, ein befreundeter Komponist, der seit vielen
Jahren den Soundtrack zu meinen Panoramen beisteuert, dann Jörg Tritthardt, Statiker
für textile Konstruktionen, und einige andere. Für viele Besucher und Besucherinnen ist
der Aufwand, der dahintersteckt, gar nicht erkennbar, einfach weil das fertige Bild in sich
meist sehr geschlossen realistisch wirkt – das ist aber auch gut so.
Foto: Tom Schulze; Copyright Asisi r Das Panometer Leipzig – eine Wortschöpfung aus Panorama und Gasometer – feiert
in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag. Was bedeutet dieses Jubiläum für Sie?
Ohne das Panometer Leipzig wäre die Wiederbelebung der Kunstform Panorama
036 • AIT 9.2023 nicht möglich gewesen, und es nimmt heute eine Sonderstellung ein, sozusagen als