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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL •  CHANGE OF PERSPEKTIVE



                                                                             Grundsätzlich sind in meiner Arbeit Skizze und Zeichnung wichtige Werkzeuge. Sie
                                                                             dienen der Reflexion und  Vorbereitung meiner Arbeiten.  Ich skizziere  täglich.
                                                                             Meine Skizzenbücher, in denen ich auch viel schreibe, sind für mich Archive für
                                                                             Ideen und Gedanken, auf die ich immer wieder zurückgreife.

                                                                             r Architektur dient einem klaren Nutzen und wird durch vielfältige Parameter
                                                                             bestimmt. Kunst ist wesentlich freier. Vor einigen Jahren ergab sich eine inter-
                                                                             essante Kooperation zwischen Ihnen und einem Schweizer Architekturbüro ...
                                                                             Ja, ich arbeitete zusammen mit Luscher Architectes aus Lausanne an einem Archi-
                                                                             tekturwettbewerb. Der Entwurfsprozess bei diesem Projekt war sehr frei, zunächst
                                                                             spielte das Raumprogramm eine untergeordnete Rolle. Ich ging an das Projekt
                                                                             heran wie an ein Bild oder Objekt. Im Laufe des Entwurfsprozesses entwickelte
                                                                             sich in Zusammenarbeit mit den Architekten ein Gebäude. Hier kam es für mich zu
                                                                             einer Verbindung meiner freien Arbeit mit einer konkreten Entwurfsaufgabe.

                                                                             r Raum besitzt für Sie viele Facetten. Das belegen Ihre Arbeiten zu den Themen
                                                                             „Rückzugsraum“, „Schutzraum“ oder „Rekonstruktion“. Wie wichtig ist für Sie
                                                                             nach wie vor die Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt?
                                                                             Die Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt ist für mich eine Grundlage für
                                                                             die Themen- und Formfindung meiner Arbeiten. Architektur, Landschaft oder ge-
                                                                             baute Strukturen jeder Art sind für mich wichtige Inspirationsquellen. Es entsteht
                                                                             in mir eine Art „inneres Archiv“ an Raum- und Formthemen, auf die ich mich in
                                                                             meinen Arbeiten beziehe. In verlassenen Industriearealen, auf Baustellen oder in
                                                                             Gebäuden, die sich im Rohbau oder Abbruch befinden, finde ich Themen für
                                                                             meine Arbeiten. Mich interessiert das Unfertige, das Fragmentarische und Proviso-
                                                                             rische. Räume, die sich im Entstehungsprozess befinden, beispielsweise in Roh-
                                                                             bauten, können für mich skulpturale Qualitäten besitzen. In diesem „Rohzustand“
                                                                             kommen Themen wie Raumdurchbrüche, -öffnungen, Einblicke und Ausblicke in
                                                                             verdichteter Form zum Ausdruck. Die in solchen Räumen darüber hinaus vorkom-
                                                                             menden Materialansammlungen, Gerätschaften oder provisorischen Konstruktio-
                                                                             nen haben für mich oft den Charakter installativer Einbauten oder Möblierungen.
               Fotos: Frank Kleinbach, Stuttgart                             r In der Stuttgarter Raumgalerie war unlängst Ihre Ausstellung „Imaginierte

                                                                             Räume“ zu sehen. Wie darf man diesen Titel verstehen?
                                                                             Der Ausstellungstitel bringt einen  wesentlichen Aspekt meiner Arbeit auf den

                                                                             Orte und sie stellen zunächst auch keine Entwürfe dar. Die ausgestellten Arbeiten
               Ohne Titel (2018): Mischtechnik auf Papier, 94 x 64 cm • mixed media on paper, 94 x 64 cm   Punkt. „Imaginierte Räume“ sind für mich keine real existierenden Räume oder
                                                                             zeigen Raumstrukturen, die meiner inneren Vorstellungswelt entspringen und die
                                                                             intuitiv im Prozess entstanden sind. Die Zeichnungen sind aus Schichtungen und
                                                                             Überlagerungen aufgebaut, es sind imaginierte Bau- und Landschaftsstrukturen
                                                                             oder Topografien. Eine unter anderem in der Raumgalerie ausgestellte mehrteilige
                                                                             Objektgruppe stellt einen imaginierten Raum dar, der sich auf Themen wie „Sta-
               Ohne Titel (2017): Mischtechnik auf Papier, 50 x 64 cm • mixed media on paper, 50 x 64 cm   tion“, „Ort“ oder „Landschaft“ bezieht.

                                                                             r Ihre leuchtend roten Architekturobjekte erinnern an die Folies, die Bernard
                                                                             Tschumi Mitte der 1980er-Jahre im Pariser Parc de la Villette realisierte. Ist hier
                                                                             der Einfluss der Dekonstruktivisten während Ihres Studiums zu spüren?
                                                                             Schon seit jeher faszinierten mich die Zeichnungen der Dekonstruktivisten, auch
                                                                             weil sie eine andere Herangehensweise in der Darstellung von Projekten zeigen.
                                                                             Die Zeichnungen besitzen eine größere Freiheit als damals übliche Architektur-
                                                                             zeichnungen. Sie sprengten die üblichen und bekannten Darstellungsmethoden
                                                                             von Architektur, indem experimentelle Darstellungstechniken eingesetzt wurden.
                                                                             Etliche dekonstruktive Zeichnungen, insbesondere jene, die während der Entwurfs-
                                                                             phase entstanden, haben in ihrem Wesen oft eine Offenheit, auch etwas Fragmen-
                                                                             tarisches. Es sind Aspekte, um die es mir auch in meiner eigenen Arbeit geht.

                                                                             r Seit 1996 haben Sie diverse Lehraufträge inne, seit 2011 an der Staatlichen
                                                                             Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Was ist Ihnen wichtig an der Lehre?
                                                                             Die Arbeit mit Studierenden, sie zu motivieren und meine Erfahrung im Bereich
                                                                             der Zeichnung und Darstellung weiterzugeben, ist für mich immer eine Bereiche-
                                                                             rung neben meiner Arbeit im Atelier. Denn die Themen meiner Lehraufträge und
                                                                             Fragen wie „Wie nehme ich etwas wahr, wie stelle ich es dar?“, „Wie visualisiere
                                                                             ich eine Idee oder einen Entwurf?“ beschäftigen mich auch in meiner Arbeit.


               046 •  AIT 9.2019
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