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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
letzte Stadterneuerung der 1970er-Jahre um Aldo Rossi und Vittorio Gregotti vermochte.
Venedig ist der ideale Think- and Do-Tank jeglicher wissenschaftlichen, innovativen und
kommunikativen Arbeit.
r Sie sind die Gründerin und Präsidentin der Locus-Stiftung, die unter dem Ehren-
schutz der UNESCO jährlich den von Ihnen initiierten „Global Award for Sustainable
Architecture“ vergibt. Worin liegen die Herausforderungen der Zukunft?
Ich sage es mit Walter Gropius‘ Bekenntnis von 1919: „Architektur ist Wissenschaft,
Handwerk und Kunst im Dienst der Gesellschaft“. Den letzten Teil dieser schönen Defi-
nition, den Dienst an der Gesellschaft, haben die Architekten meiner Generation, die an
die Wahnvorstellung ökonomischen Endlos-Wachstums glaubten, gerne vergessen. Die
heutige Bewegung nachhaltiger Architektur, die sich auf die Reformbestrebungen der
Bauhaus-Jahre gründet, entdeckt diesen sozialen und ökologischen Auftrag endlich neu.
Architektur soll uns Menschen schützen, doch auch der Rahmen unserer Entfaltung sein
und uns, im besten Fall, jeden Morgen von Neuem bezaubern.
r Stichwort Gropius: Die zweite große Frau der 1920er-/30er-Jahre, die Sie wieder-
entdeckt haben, ist Ise Frank, Walter Gropius‘ zweite Ehefrau. Sie wurde die eman-
zipatorische Seele des Bauhauses. Was können wir noch heute von ihr lernen?
Ise Frank hat sich in die „Idee Bauhaus“ eingeschrieben und ihr journalistisches und
Foto: Evelyne Frank literarisches Wissen und Können eingebracht, um mit Walter Gropius und seinen Ver-
bündeten die Theorie und Ethik der deutschen Reformarchitektur-Bewegung zu formu-
tell im Alltag der Bauhaus-Schule vorlebten, waren zunächst die „ökologische Stadt“,
Walter Gropius und seine zweite Frau Ise Frank, genannt „Frau Bauhaus“ (1937) lieren. Die drei fundamentalen Neuerungen, die Gropius und Ise Frank auch experimen-
die wir noch in den CIAM-Zürich-Akten von 1931 vorfinden, die dann aber mit Hitlers
Machtübernahme und Le Corbusiers Doktrinen von 1933 aus dem europäischen Diskurs
verschwinden. Zweitens die interdisziplinäre, viele Wissenschaften und Künste ein-
schließende Bauhaus-Lehre und -Forschung. Unter Walter Gropius lehrte am Bauhaus
kein einziger Architekt. Schließlich die soziale, ja gesellschaftliche Emanzipation durch
„Das große Verdienst von Jana Revedin Architektur: Gropius‘ Bauhaus war die allererste Architekturschule, die Frauen zum Stu-
dium zuließ. Doch diese drei Neuerungen wären heute vergessen, hätte Ise Frank nicht
besteht darin, dass sie von der schon 1927, als sich auch im „roten“ Dessau das Nazi-Regime etablierte, entschieden:
Menschlichkeit ihrer Charaktere mit einer „Das Bauhaus zieht nach Amerika.“ Sie war es, die die in nur fünf Jahren am Bauhaus
Dessau erprobte „aktive“ Pädagogie nach Patrick Geddes, die kollektiven Entwurfspro-
solchen Brillanz erzählt, dass man beim zesse und die von der Industrie gefeierten, technisch wie künstlerisch innovativen Pro-
Lesen meint, in deren Haut zu schlüpfen.“ dukte über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt machte. Die von ihr 1938, gleich nach
der Ankunft im amerikanischen Exil, gemeinsam mit Walter Gropius und Herbert Bayer
La Repubblica kuratierte Bauhaus-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art bezeichnete die
Fachpresse als „die außerordentlichste Schau aller Zeiten.“
r Als Architektin, Architekturtheoretikerin und Professorin für Architektur und
Städtebau sind Sie mit der Genderthematik unweigerlich konfrontiert ...
Jeden Tag. Ich mache meinen jüngeren Kolleginnen und meinen Studentinnen Mut zu
Protagonisten in „Flucht aus Patagonien“: Kunstmäzenin Eugenia Errázuriz und Innenarchitekt Jean-Michel Frank ihren eigenen Träumen, ich versuche, die Freude an unserem herrlichen Metier vorzu-
leben. Als ich 1987 von Aldo Rossi in sein Büro aufgenommen wurde, arbeiteten dort
ausschließlich Männer, ich lernte auf den Baustellen von Technikern und Handwerkern,
Foto: Rogi Audré, 1935; Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN – Grand Palais/Georges Megverditchian
die ausschließlich Männer waren, und entwarf für Klienten, die ebenso beinahe aus-
schließlich Männer waren. Da fragte ich mich: Ist die Architektur nicht weiblich? Tat-
sächlich ist sie seither sehr viel weiblicher geworden. Weit mehr als die Hälfte meiner
Studenten sind junge Frauen.
r In „Flucht nach Patagonien“, ihrem neuesten Buch, das im August erscheint, stel-
len Sie uns eine weitere mitreißende Frau vor, die Sie aus dem Schatten der
Geschichte hervorholen möchten ...
Ja, denn Rebellinnen braucht die Welt! Die Geschichte beginnt im Februar 1937: Eugenia
Foto: Artists Rights Society (ARS), NY/ADAGP, Paris; Coco Chanel, Pablo Picasso, Igor Strawinsky und Blaise Cendrars gefördert. Jetzt lädt sie
Errázuriz, die einflussreichste Kunstmäzenin der Pariser Moderne, hat die Karrieren von
den jungen jüdischen Innenarchitekten Jean-Michel Frank, übrigens Ise Franks Cousin
und der Lieblingsonkel der kleinen Anne Frank, auf eine Reise nach Patagonien ein. Sie
hat ihr gesamtes Vermögen in den Bau des ersten Grandhotels der Anden investiert, das
Jean-Michel Frank weltweit bekannt machen soll. In Wahrheit ist dieses Projekt am süd-
lichsten Ende der Welt aber Eugenia Errázuriz´ Flucht aus Europa, das sie von Hitler und
032 • AIT 6.2021 dem Nationalsozialismus bedroht sieht.