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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
r Welche klaren Vorteile und neuen Möglichkeiten bietet der digital unterstützte
Fertigungsprozess im Gegensatz zur traditionellen Goldschmiedekunst?
AFV: Mithilfe des additiven Fertigungsprozesses ist es möglich, Entwurfsideen umzu-
setzen, die mit traditionellen Methoden nur mit sehr viel Aufwand oder gar nicht mög-
lich wären. Die Halskette mit dem Neta-Anhänger zum Beispiel besteht aus einer ein-
zigen kontinuierlichen Oberfläche, die sich an mehr als 100 Stellen mit sich selbst
verschränkt, sich aber nie berührt. Die Maschen folgen dabei einer unregelmäßigen
Freiformfläche. In Bereichen mit höheren lokalen Oberflächenkrümmungen sind sie
weiter aufgestellt, um einen konstanten Abstand zu wahren. Es sind also Verschrän-
kungen, Detailreichtum und eine Freiheit der Form, die durch den digitalen Ferti-
gungsprozess und den algorithmischen Entwurf möglich werden. Aufgrund der geo-
metrischen Komplexität und des damit verbundenen aufwendigen Produktionsverfah-
rens bestehen unsere Schmuckstücke aus 18-karätigem Gold, damit die Kosten für Pro-
Ina Earrings small: „Prêt-à-porter“ und Grafik • Ina earrings small: “Prêt-à-porter” and graphic duktion und Material im Verhältnis stehen.
r In beiden Metiers, in Architektur und Schmuckdesign, geht es um Ästhetik, Ma-
terial, Form, Geometrien. Worin liegt für Sie der besondere Reiz, kleine, filigrane
Schmuckstücke zu fertigen im Gegensatz zur so viel komplexeren Architektur?
SV: Im Vergleich zur Architektur haben wir bei unseren Schmuckentwürfen keine Re-
striktionen durch Normen, Bauherren oder Budgets – dafür aber eine größere geome-
trische Freiheit. Dennoch gibt es natürlich fertigungstechnische Aspekte, die wir be-
Sana Bracelet: erstes und einziges Schmuckstück aus Polyamid • Sana bracelet: jewellery made of polyamide achten müssen. Die Entwicklung eines Schmuckstücks, verglichen mit einem Projekt
in der Architektur, ist zeitlich und organisatorisch überschaubar. Wir sind nicht an Bü-
rozeiten und Deadlines gebunden und dadurch zeitlich und örtlich flexibel. Unseren
eigenen Schmuck zu kreieren, bietet uns die Möglichkeit, unsere Ideen zu 100 Prozent
umzusetzen, ohne Kompromisse eingehen zu müssen. Den eigenen Ansprüchen ge-
recht zu werden, ist die größte Herausforderung.
r Sind Ihre Schmuckstücke denn Einzelstücke oder Serienprodukte? Und fertigen
Sie auch individuelle Schmuckstücke auf Kundenwunsch?
AFV: Unsere Schmuckstücke werden zum größten Teil industriell gefertigt. Durch die
akribische Handarbeit des Goldschmiedes erhält jedes unserer Stücke jedoch eine in-
dividuelle, lebendige Oberfläche, die es von einem Serienprodukt unterscheidet. Auf
Kundenwunsch fertigen wir immer wieder Varianten an. Eine Kundin wünschte sich
beispielsweise einen breiteren Iva Ring, eine andere einen schmäleren Emi Cocktail
Ring. Die Emi Earrings kamen auf Anregung einer Interessentin zustande. Eine kom-
plett individuelle Anfertigung auf Kundenwunsch hat sich bis jetzt nicht ergeben. Der
Aufwand, für ein Einzelstück einen eigenen Algorithmus zu schreiben, ist sehr groß.
r Die Natur, die große Inspirationsquelle der Architektur, prägt ganz offensichtlich
auch Ihre Schmuckentwürfe. Wovon lassen Sie sich ganz konkret inspirieren?
SV: Unsere Faszination gilt dem mathematischen Regelwerk, das der Natur zugrunde
liegt. Manchmal bleibt es verborgen und manchmal tritt es zutage – unter dem Mikro-
skop oder aus weiter Entfernung. Radiolarien, auch Strahlentierchen genannt, und
die Flugformation von Staren sind für uns ganz besonders faszinierende Beispiele für
Inspiration Natur und parametrische Sian-Gitterstruktur • Inspiration from nature and parametric lattice structure Strukturen, die einer unsichtbaren Formgebung folgen. Der Mensch hat ein intrinsi-
sches Verständnis für diese Muster. Dabei ist unser erklärtes Ziel nicht die Biomime-
tik, das Nachahmen von Formen aus der Natur, sondern das Kreieren eigener geome-
trischer Gesetzmäßigkeiten.
r Sie arbeiten beide nach wie vor als Architekten. Wie verbinden Sie zeitlich-
organisatorisch Ihre beiden Tätigkeiten?
AFV: Es gestaltet sich oft gar nicht so einfach, die verschiedenen Projekte unter einen
Hut zu bringen. Wir stoßen immer wieder an zeitliche Grenzen. Unsere Projektarbeit
in den Bereichen Architektur und Computational Design ist überwiegend an reguläre
Arbeitszeiten gebunden. Für Sian Design und Formfeld, unser Unternehmen für aku-
stisch wirksame, auf Computer-Algorithmen basierende Wandpaneele und -reliefs aus
Holz, arbeiten wir daher häufig abends und an den Wochenenden. Verschiedene
Standbeine zu haben ist für uns gut, hat aber auch den Nachteil, dass sich keines
davon so schnell entwickelt, wie wir es uns oft wünschen. Da müssen wir immer wie-
der feststellen, dass viel Geduld notwendig ist. Auf der anderen Seite können wir uns
eben auch Zeit lassen, und der ganze Druck lastet nicht auf einer Sache. Zudem erge-
ben sich oft Synergien zwischen den verschiedenen Bereichen.
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