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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL •  CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                          r Auch auf ergonomische Aspekte legen Eltern beim Ranzen-Kauf viel Wert. Sie
                                                                          haben das Eigengewicht des kundschafters im Vergleich zu jenem der einschlägigen
                                                                          Ranzen-Marken deutlich reduziert …
                                                                          Ja, wir legen tatsächlich großen Wert auf das geringe Eigengewicht unserer kundschaf-
                                                                          ter, denn genau das war ein wesentlicher Treiber für uns, ins Schulranzen-Design ein-
                                                                          zusteigen.  Wir  bemerken  hier  aber  tatsächlich  zwei  Ansätze.  Die  einen  meinen:
                                                                          „Gewicht spielt eine untergeordnete Rolle, solange genügend Ergonomie vorhanden ist.“
                                                                          Und die andern sagen: „Wenn mein Kind in der ersten Klasse ein Mäppchen, zwei Hefte,
                                                                          eine Fibel und das Pausenbrot dabei hat, und der Schulranzen wiegt dann trotzdem ge-
                                                                          fühlt vier bis fünf Kilogramm, dann kann ich das nicht verantworten.“ Wir gehören eher
                                                                          zur zweiten Gruppe und versuchen einen guten Koeffizienten zwischen Polsterung und
                                                                          minimalem Eigengewicht hinzubekommen. Und ich muss sagen, unsere Erfahrungen
                                                                          geben uns ein Stück weit recht. Wir erleben relativ viele Umsteiger von schwereren „Er-
                                                                          gonomie-Monstern“ auf unsere Leichtgewichte.

                                                                          r Hätten Sie 2005 je gedacht, dass aus einer privaten „Do it Yourself-Aktion“ einmal
                                                                          ein Geschäftsmodell entstehen könnte?
                                                                          Das war damals weit weg, und mit Vernunft betrachtet waren da auch keine großen
                                                                          Chancen. Außerdem hatten wir nach der langen und teilweise mühsamen Entwick-
                                                                          lungsphase erst einmal genug. Aber die Reaktionen bei der Einschulung waren so über-
                                                                          schwänglich, dass wir zum Glück unvernünftig genug waren, um weiterzumachen. So
                                                                          wurde aus dem Prototyp eine Miniserie, die wir hier in Berlin auf dem Designmai 2006
                                                                          vorgestellt haben. Dort wurden wir eingeladen, bei einer Designmesse in Zürich im
                                                                          Herbst teilzunehmen, wo wir gleich einen der Designpreise gewannen. Ab da war uns
                                                                          klar, dass Musik drin ist. Dass wir noch weitere zehn Jahre brauchen würden, um davon
                                                                          leben zu können, lag an unserer familiären, finanziellen und psychologischen Situation.
                                                                          Wir wollten und konnten kein zu großes Risiko eingehen und haben immer nur das
                                                                          reinvestiert, was aus der Vorsaison übrig war.

                                                                          r Wie hat sich Ihre Firma im Laufe der Jahre wirtschaftlich entwickelt?
                                                                          kundschafter war zehn Jahre lang finanziell mehr oder minder ein Nullsummenspiel.
            Geschäftsführerin Ilka Koss managt alles Organisatorische. • Ilka Koss takes care of the complete organization.  Das Geld zum Leben kam durch die Agenturjobs in der Medienbranche herein. Kredite
                                                                          wollten wir nicht, und wir hätten wahrscheinlich auch keine bekommen. Dazu war alles
                                                                          zu klein und zu verrückt. Ab 2014 entwickelten sich sowohl die Nachfrage als auch un-
                                                                          sere Produktivität aber so, dass man über kundschafter als Einkommensquelle seriös
                                                                          nachdenken konnte. 2016 war ein entscheidendes Jahr. Wir mussten aus unseren alten
                                                                          Atelierräumen raus und mieteten einen eigenen kleinen Laden an. Plötzlich war die
                                                                          Miete mehr als doppelt so hoch. Dies nahmen wir zum Anlass, ins kalte Wasser zu
                                                                          springen und uns beruflich ausschließlich auf unsere Selbstständigkeit zu konzentrie-
                                                                          ren. Die fehlenden Einkünfte aus den Agenturjobs waren natürlich hart für uns als fünf-
                                                                          köpfige Familie. Das glichen wir – quasi studentisch – durch strikte Ausgabenreduktion
            Gut für den ökologischen Fußabdruck: Stoffe aus Sachsen •Good for the ecological footprint: fabrics from Saxony  und -kontrolle aus. Der Preis für die totale Freiheit! Long story short: Am Schluss war
                                                                          das Risiko kalkulierbar. Wir haben das jedoch mit einer zehnjährigen „Testphase“ be-
                                                                          zahlt. Das komplette Gegenteil also von Start-up-Kultur. Seit 2016 leben wir als Familie
                                                                          von unserer Ranzen-Manufaktur. Reich werden wir auf diese Weise wohl nicht mehr. Es
                                                                          gibt heutzutage sicher einfachere Wege, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber in
                                                                          meinen Augen wenige, die schöner sind.

                                                                          r Die Nachfrage scheint enorm zu sein. Sie hätten die Produktion längst rationali-
                                                                          sieren können. Wie wichtig ist der Manufaktur-Aspekt nach wie vor für Sie?
                                                                          In der Saison 2019/20 haben wir gut 1000 Ranzen gefertigt. Das ging nur durch eine
                                                                          ständige Steigerung der Produktivität, durch eine Verbesserung von Arbeitsabläufen,
                                                                          kleine Veränderungen im Design und – wie gesagt – erhebliche Selbstausbeutung. Der
                                                                          Manufaktur-Aspekt ist ein wichtiger Teil der kundschafter-Story, den wir viel zu wenig
                                                                          offensiv kommunizieren. Man verbindet mit unseren Produkten eine schöne, schlichte
                                                                          und leichte Alternative zum Schulranzen-Massenmarkt. Das ist auch okay so, allerdings
                                                                          kommen dabei Aspekte der Nachhaltigkeit, wie der ökologische Fußabdruck von Mate-
                                                                          rialien, Qualitätsstandards bei der Arbeit, Langlebigkeit sowie unser schneller, unkom-
                                                                          plizierter Kundenservice ein wenig zu kurz. Das alles kann man nur gewährleisten,
                                                                          wenn man in kleinen Stückzahlen produziert und überall den finalen Blick darauf hat,
                                                                          also in einer Manufaktur. Zudem hat uns dieses Geschäftsmodell auch maßgeblich
                                                                          durch das Corona-Jahr 2020 gerettet, denn wir waren unabhängig von Lieferketten aus
                                                                          Asien und konnten einfach weitermachen.

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