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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL •  CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                          ganz viel Eigenleistung innerhalb von zweieinhalb Monaten ein neues Innenleben zu
                                                                          schaffen. Die drei Gästezimmer im Dachgeschoss werteten wir ein wenig auf, mussten
                                                                          diese aber im Wesentlichen erst einmal so belassen, wie sie waren. Unser Budget war
                                                                          mehr als ausgeschöpft. Mit mehreren Nachtschichten bekamen wir den Eröffnungster-
                                                                          min mit Ach und Krach hin. Seitdem werden nach und nach die restlichen „Baustellen“
                                                                          im und ums Haus abgearbeitet. Beispielsweise haben wir die ehemalige Kellerbar, die
                                                                          früher in Gästehäusern üblich war, in einen netten Saunabereich umgewandelt.

                                                                          r Der Tourismus im Allgäu ist saisonalen Schwankungen unterworfen. Wie hoch
                                                                          ist Ihre Auslastung über das Jahr verteilt?
                                                                          Die Auslastung hat natürlich noch Luft nach oben. Wir sind jetzt im dritten Jahr und
                                                                          liegen noch hinter unserem geplanten „Best Case“. Das liegt daran, dass wir für die
                                                                          Hochsaison nicht genügend Zimmer haben. In der Nebensaison spielt das Wetter oft
                                                                          eine sehr große Rolle. Ist schönes Wetter vorhergesagt, füllt sich der Kalender kurzfri-
                                                                          stig, oft schlagartig, wenn nicht, bleibt er leer. Die Buchbarkeit über große Online-Platt-
                                                                          formen erhöht zwar teilweise die Auslastung, ist aber auch sehr teuer für uns. Unser
                                                                          Wellnessbereich ist klein, aber fein. Bei den Wellness-Paketen der großen Mitbewerber
            Urlaubsfeeling: Atmosphäre in den Zimmern • Holiday feeling: atmosphere in the rooms  können wir sicher nicht mitspielen. Aber die Resonanz unserer Gäste ist sehr positiv.

                                                                          r „Mal was ganz anderes machen“ – von einem beruflichen Neustart träumt so
                                                                          mancher hin und wieder. Welche Erwartungen haben sich für Sie erfüllt, wurden
                                                                          übertroffen oder haben sich als falsch und unrealistisch erwiesen?
                                                                          Ich bin mein eigener Chef. Das ist toll! Wir konnten unser Haus so gestalten, wie wir
                                                                          es wollten, und führen es nach unserem Gusto. Das hat etwas, bedeutet aber eine
                                                                          Menge Arbeit! Wir sind es gewohnt, viel zu arbeiten, doch das Betreiben unserer Pen-
                                                                          sion legt noch einmal eine Schippe drauf. Neben dem „immer präsent sein“ kommt
                                                                          die körperliche Arbeit hinzu sowie alles Administrative – Buchhaltung, Webseite, Ein-
            Entspannend: Begehbare Dusche im Saunabereich • Relaxing: Walk-in shower in the sauna area  kauf, Buchungen und vieles mehr. Das ist unter der Woche für eine Person alleine im
                                                                          Grunde zu viel. Die Wochenenden stemmen wir meist zu zweit. Natürlich ist das schö-
                                                                          ner, aber wirklich mal eine Auszeit und ein richtiges Wochenende haben mein Mann
                                                                          und ich oft monatelang nicht. Ersatzweise schaffen wir uns kleine Inseln an Samstag-
                                                                          oder Sonntagnachmittagen. Dennoch haben wir unseren Schritt nie bereut, denn wir
                                                                          leben ein ganz anderes, für uns deutlich gesünderes und wertvolleres Leben, ohne
                                                                          ständigen Stau und Spießrutenlauf in der Großstadt. Das ist wirklich schön. Und wir
                                                                          haben jetzt auch einen Hund. Diesen habe ich mir schon ganz lange gewünscht.

                                                                          r Das Allgäu punktet mit seiner Natur und zahlreichen Sportmöglichkeiten. Welche
                                                                          nahe gelegenen Architekturziele können Sie Ihren Gästen ans Herz legen?
                                                                          Auf die neue Therme in Oberstdorf nach Plänen des Büros Auer Weber Architekten sind
                                                                          wir sehr gespannt. Baden mit Bergblick! Aber wir müssen uns noch gedulden. Die Wie-
                                                                          dereröffnung ist für 2023 anvisiert. Das Gipfelrestaurant der Nebelhornbahn von
                                                                          Hermann Kaufmann + Partner bietet einen grandiosen Ausblick auf die Berge. Das
                                                                          Kunsthaus von Kilian Lipp auf dem Gailenberg in Bad Hindelang ist ebenfalls einen Be-
                                                                          such wert. Tolle Kunst kommt obendrauf. Und die Heini Klopfer-Skiflugschanze ist
                                                                          sicherlich auch ein besonderes Highlight, allein wegen ihrer Lage.

                                                                          r  Konzepte  für  den  Tourismus  in  den  Bergen  werden  ambivalent  diskutiert.
                                                                          Erholung oder Action, regionale Identität oder neue Perspektiven, Individual- oder
                                                                          Massentourismus. Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer neuen Heimat?
                                                                          Das Allgäu ist in einigen Bereichen in positiver Hinsicht sehr traditionsbewusst und
                                                                          heimatverbunden, aber in manchen Bereichen auch wenig vorausschauend und inno-
                                                                          vativ. Die Natur ist auch im Allgäu nicht mehr ganz in Ordnung, aber das Image ist
                                                                          noch sehr gut. Hier muss in Sachen Ökologie und Nachhaltigkeit vorausgedacht wer-
                                                                          den. Uns selbst ist es enorm wichtig, mit unseren regionalen Bio-Produkten einen Bei-
                                                                          trag zu leisten. Auch das Thema Tourismus sollte sich mehr Richtung Nachhaltigkeit
                                                                          orientieren. Dass man sich zum Beispiel gegen ein Projekt einer geplanten Skischaukel
                                                                          in der Region entschieden hat, kann ich gut nachvollziehen. Ein Mehr an Gästen, ge-
                                                                          rade in der Hauptsaison, würde die Region auf lange Sicht nicht gut vertragen. Die
                                                                          Schneesaison wird außerdem immer unsicherer und kürzer. Hier sollte für die Zukunft
                                                                          mehr an Qualität statt an Quantität gedacht werden. Durch attraktive Freizeitangebote,
                                                                          die auch im April und Mai gut funktionieren, könnte man die Nebensaison stärken.
                                                                          Darin steckt in meinen Augen noch viel Potenzial. Das Allgäu ist so wunderschön und
                                                                          tatsächlich ganzjährig attraktiv! Diese Werte sollte man vermitteln und verkaufen!

            048 •  AIT 3.2020
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