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GESUNDHEIT UND WELLNESS • HEALTH AND SPA   THEORIE  •  THEORY



                                                          stationären Bereichen. Die Orientierung der Korridore parallel und in Fließrichtung zum Wasser schafft
                                                          Vertrautheit und sorgt für einen Wiedererkennungswert. Gleiches gilt für den Innenhof, dessen Propor-
                                                          tionen an die dörflichen Strukturen der Umgebung erinnern.

                                                          Gerüche, Geräusche, Sichtbezüge: für Kranke heilsame Sinneseindrücke

                                                          Viele Kranke sind hypersensibilisiert. Sie riechen entweder gar nichts mehr oder übermäßig viel. In
                                                          diesem Zustand ist es schmerzlich unangenehm, wenn bereits beim Betreten einer Klinik Essensgerüche,
                                                          Desinfektionsmittel und Angstschweiß den Sinneseindruck bestimmen. Raumanordnungen so zu wäh-
                                                          len, dass Schwerkranke diesen Geruchsquellen nicht begegnen müssen, ist eine wichtige Maßnahme,
                                                          um die Krankenhausarchitektur zum Stressabbau zu nutzen. Ähnlich verhält es sich mit Geräuschen.
                                                          Gesunder Schlaf ist für die Genesung unentbehrlich. Trotzdem herrscht auf den Stationsfluren vor den
                                                          Krankenzimmern teilweise ein Lärmpegel von 80 Dezibel. Das entspricht einem vorbeifahrenden Lkw.
                                                          Inzwischen wissen wir, dass sich PatientInnen besser von ihrer Operation erholen, wenn sie neben
                                                          ausreichendem Schlaf auch über eine Sicht in die Natur profitieren. Sie benötigen weniger Medika-
                                                          mente und werden früher entlassen als solche, die auf eine kahle Mauer blicken. 2010 konnten wir
                                                          im Rahmen der Rotterdam Studie belegen, dass insbesondere KrebspatientInnen vom Faktor Weitsicht
                                                          profitieren. Während der Blick auf geschlossene Wände ihr Gefühl von Enge und Perspektivlosigkeit
                                                          verstärkt, hilft Weitsicht, zu entspannen und positive Gedanken zu entwickeln. Dies gilt auch für Sichtbe-
                                                          züge im Inneren. Bonnema Architecten (heute De Zwarte Hond) haben diesen Aspekt beim Zuyderland
                                                          Medisch Centrum in Sittard beispielhaft umgesetzt (5). Auf den onkologischen Pflegestationen verfügen
                                                          die Patientenzimmer über große Glasschiebetüren. Sie ermöglichen den Blick auf einen mit Teppichbo-
                                                          den ausgelegten, fünf Meter breiten Gang. Dieser ist als Aufenthalts- und Arbeitsbereich für Angehörige
                                                          und Pflegende gestaltet und eröffnet die visuelle Interaktion mit dem „Leben im Inneren“ der Station.
                                                          Die Architektur unterstützt somit die Kranken darin, sich von ihren Angstgedanken abzulenken. Darüber
      Foto: Kashef Choudhury/Urbana                       von PatientInnen selbst reguliert werden kann.
                                                          hinaus entstehen wahrnehmbare Beziehungen zu einer positiv bewerteten Geräuschkulisse, deren Pegel


                                                          Architekturauftrag: Privatheit im Krankenhaus schützen helfen


       (4) Friendship Hospital von Kashef Chowdhury in Bangladesch  Das Bedürfnis nach Aussicht und Weitsicht wird meist in einem Atemzug mit dem Verlangen nach
                                                          Privatheit und Rückzugsraum genannt. Das stellt die Entwerfenden teils vor große Herausforderungen.
                                                          Besonders relevant wird dieser Faktor bei der Gestaltung von Umgebungen für schwerkranke Kinder und
                                                          Jugendliche. Während der Langzeithospitalisierung leidet ihre psychosoziale Entwicklung. Um diesem
                                                          Umstand entgegenzuwirken, entwickelten wir für das Princess Máxima Center für Kinderonkologie im
              „Auf den Stationsfluren vor                 niederländischen Utrecht eine neue Patientenzimmertypologie (6-8): Die PCPU (Parent-Child-Patient-
            den Krankenzimmern herrscht                   Unit) ermöglicht erstmals eine Regulierung der Privatheit zwischen Eltern und schwer krankem Kind
                                                          im Krankenhaus. Das Zimmer ist zweigeteilt. Die Teilung erfolgt schrittweise durch eine Schiebetür,
           teilweise ein Lärmpegel von 80                 sodass bei gutem Befinden des Kindes maximale Privatheit und bei schlechtem Befinden maximale,

            Dezibel. Das entspricht einem                 heilende Nähe hergestellt werden kann. Beide Teile verfügen über einen eigenen Eingang, ein eigenes
                                                          Bad sowie einen eigenen Arbeits- beziehungsweise Spiel- und Essbereich. Eltern haben zudem einen
                vorbeifahrenden Lkw.“                     direkten Zugang zum Außenbereich, einer Terrasse oder einem Balkon – wichtige Entwurfsmerkmale
                                                          einer gesundheitsfördernden Architektur für Eltern, die tagtäglich um das Leben ihrer Kinder bangen.
          Gemma Koppen, Dr. Tanja Vollmer
                                                          Phase 0: entscheidende Rolle im Evidence Based Designprozess

                                                          Der Impuls für das europäische Leuchtturmprojekt in Utrecht ging zunächst von einem gemeinnützigen
       (5) Zuyderland Medisch Centrum in NL-Sittard von De Zwarte Hond (ehem. Bonnema Architecten) Interessenverband aus Eltern krebskranker Kinder, MedizinerInnen, PsychologInnen und Pflegenden
                                                          aus. Sie beauftragten uns mit den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in einer zweijährigen Wett-
                                                          bewerbsvorphase, der sogenannten Phase Null. Durch diesen angemessenen zeitlichen Vorlauf und die
                                                          interdisziplinäre Zusammenarbeit konnten architekturpsychologische Erkenntnisse in die Praxis gelan-
                                                          gen. In Deutschland spielt mit Ausnahme vom Bau der Neuen Kinder- und Jugendklinik Freiburg eine
                                                          derartige Phase Null bislang keine Rolle. Hierin liegt begründet, dass die deutsche Gesundheitsarchitek-
                                                          tur im internationalen Vergleich beim Evidence Based Design deutlich im Hintertreffen ist. Deutschland
      Foto: De Zwarte Hond (ehemals Bonnema Architecten)  öffnen sich allmählich für wissenschaftsfundierte Argumente in der Entwurfsplanung. Der Strukturwan-
                                                          plant in den kommenden Jahren im Rahmen radikaler Reformen, mehrere Milliarden Euro für den Um-
                                                          und Neubau großer Behandlungszentren und Krankenhäuser auszugeben. KrankenhausbetreiberInnen

                                                          del im Gesundheitswesen, die Verknappung von Ressourcen sowie der medizinische Fortschritt werden
                                                          über kurz oder lang dazu führen, dass Krankenhäuser auch gestalterisch neu definiert werden müssen.
                                                          Hieraus eröffnen sich Chancen, über innovative Modelle im Gesundheitsbau nachzudenken und sich
                                                          durch die Anwendung architekturpsychologischer Erkenntnisse am Wandel zu beteiligen. Es gibt also

                                                          (wieder) sinnvoll und wirksam zu ergänzen!


       122  •  AIT 11.2023                                allen Grund, nicht länger zu warten, mit einer wissenschaftsfundierten Baukunst die Heilkunst endlich
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