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Redings Essay


              DER OCHSENRITT






              ZU MÜNSING








               Ein Essay von Benjamin Reding
               K  acheln, grün, blau, rot, gelb. Wieder starrte ich auf die Wand. Vielleicht sollten  ten, eine Lederbuxe mit bestickten Hosenträgern und ein weißes Hemd mit hochge-
                  diese Muster doch etwas darstellen? Der große rote Kachelfleck eine Sonne? Und
                                                                             krempelten Ärmeln. „Boah“, sagte ich. „Schleich di!“ Der junge Mann auf der Kuh rief
               die grüne Fläche daneben eine Insel?  Und das Blau, natürlich, das Meer? Aber vielleicht  in meine Richtung. Was mochte er meinen? Vielleicht „Komm her“? Also ging ich auf
               auch eine Tomatenpizza und ein Kopfsalat auf einem blauen Tischtuch? Oder etwas  ihn zu. „Wie heißt deine Kuh?“ Der Junge schaute mich entgeistert an. „Des is koa Kua,
               ganz anderes oder genau umgekehrt oder ... Pfiiiieeep! Wieder der schrille Pfiff. Ja, es  des is a Ochs, du Depp.“ Er brachte den Ochsen zum Stehen. „Beppo hoast der.“ Beppo
               wurde Zeit, allerhöchste Zeit sogar. Dass das Brett aber auch so schwankte. Und so weit  blickte zu mir hoch. Große, friedliche Ochsenaugen. Ich wurde mutig. „Kann ich mitrei-
               weg war. Von unten sah es gar nicht so aus. Drei Meter. Aber von hier oben: Drei Meter  ten?“ Der Junge beäugte mich prüfend. Genau prüfend. „Du?“ Er schüttelte den Kopf.
               sind furchtbar hoch. Der Schwimmlehrer hob wieder die Trillerpfeife. Also los, einen  „Des konnst net.“ Ich schaute zu Boden. Auf meine Schuhe, auf die Wiese. Sie war grün.
               Schritt vor und noch einen. Da verrutschte die Badehose. Ich griff hin, verlor das Gleich -  Ich spürte den leichten Sonnenbrand im Nacken und die Rippe tat weh. “Wennst nix
               gewicht und fiel. Paff! Platsch! Gurgel! Und Stille.          sogst und di ned riarst, derfst zuaschaun.“ Ich öffnete den Mund, staunend-fragend. Der
               Warum Bad Tölz? Das schöne, gesunde, natürliche Bad Tölz. Vielleicht weil es so in  Junge riss sich zusammen, sprach es jetzt ganz langsam, ganz konzentriert aus: „Wenn
               Prospekten steht und auf Postkarten und in Reisekatalogen. Mama fuhr hin und nahm  du nix sagst und dich nicht bewegst, dann darfst du zuschauen.“ Ich nickte. Und sagte
               mich mit. Urlaub, zwei Wochen. Eine Reise mit dem Zug. Ich sogar noch zum Kindertarif.  nix, bewegte mich nicht und guckte zu. Heute und die nächsten drei Tage. Er ritt von
               Das Einsteigen fiel mir schwer. „Wie ein alter Mann“, sagte der Schaffner und grinste.  links nach rechts, von vorne nach hinten und, wenn Ochse Beppo mal nicht recht
               Prellungen und eine angebrochene Rippe. Der                                             wollte, auch zur Seite oder im Kreis. Dann, am
               Bauchplatscher  vom Dreimeterbrett. Nicht mal                                           Abend des dritten Tages, fragte ich den Reiter:
               mehr lachen oder mich bücken konnte ich. Die                                            „Warum machst du das?“ Erstaunt schaute er zu
               Prospekte hatten recht. Schon hinter Fulda wur-                                         mir herüber. „Na, fürs Rennen, am Sonntag, in
               den die Wiesen grüner, der Himmel blauer, die                                           Münsing. Des  wird a Fetzengaudi. Aber dafür
               Kirchturmdächer zwiebelförmiger, die Welt schö -                                        bist no zu jung.“ Dann nahm er das Zaumzeug,
               ner. Der Taxifahrer am Bahnhof in Bad Tölz sprach                                       rief dem Ochsen  wieder ein aufmunterndes
               eine nie gehörte Sprache.  Wie ein  Wasserfall                                          „Yoooaaahhh!!“  zu und ging  mit ihm die
               klang das, wie ein schwerer Sturm, mit Blitz und                                        Dorfstraße hinunter. Danach kam er nicht mehr.
               Donner und Hagelschauern. Ich weiß nicht, ob                                            Die Wiese blieb leer.
               Mama ihn verstand, aber sie nannte das Fahrziel                                         Am nächsten Sonntagmorgen, meiner Mama
               und er fuhr hin: „Hotel Sankt Anton“. Eigentlich                                        sagte ich, ich ginge zum Wassertreten, setzte ich
               sah es  wie die  Bauernhöfe rundherum  aus:                                             mich in den Bus nach Münsing. Man sah es
               Häuser mit Fens terläden, Blumenkästen und Putz                                         schon von Weitem. Ein Transparent „START“, ein
               an den Wänden so dick, als hätte man den Mörtel                                         Transparent „ZIEL“ und dazwischen die Renn -
               mit Schnee schiebern hochgeworfen, nur war es                                           strecke und Zuschauer und Ochsen und Männer
               ungefähr zehnmal so groß und hatte einen Fahr -                                         in Lederhosen und Wollstrümpfen. Tatsächlich,
               stuhl. „Im Erdgeschoss finden sie unsere                                                Ochse „Beppo“ war auch da und sein Reiter, der
               Zirbelkieferstub´n, da gibt´s abends a guade Musi                                       Junge, nach dessen Namen ich nicht gefragt
               und was Schön´s zu trinken und im Tiefgeschoss Foto: © Hans-Peter Höck                  hatte. Mein Herz klopfte. „Reiter nauf und auf
               unsere  Wellness-Area  mit  Sauna,  Solarium,                                           geht´s!“ Die Lautsprecherstimme sprach fast
               Fitnessbereich und Swim mingpool.“ Die Dame                                             Hoch deutsch. Die Leute schrien, riefen, tobten.
               an der Rezeption neigte sich zu mir herunter. „Da kannst schwimmen, Bub, gratis.“ Ich  Und die Ochsen rannten. Auch Beppo, schneller sogar als in allen Proben. Die Reiter
               schüttelte den Kopf. „Hab mir die Rippe angebrochen“, und zeigte auf die wehe Stelle.  saßen weit vorn  auf  ih ren Ochsen,  wollten sich auf ihnen  wie auf Pferden halten,
               Sie schaute mich an, überlegte, lang. „Dann kannst du ... Wassertreten.“   aufrecht und heldenhaft. Bep pos junger Reiter machte es anders: Ganz hinten auf dem
               Nach dem zweiten Tag und achten Mal Wassertreten zog ich die Socken über meine  Ochsen saß, nein, lag er, seine Arme, seinen Körper fest an das Tier gepresst, seine
               kalten Füße, schob die gläserne Schwimmbadtür zur Seite und stapfte los. Es roch gut  Beine abgewinkelt, wie ein Flugzeug beim Landeanflug. Aber kurz vor der Zielgeraden,
               hier draußen, nach Tannennadeln und frisch gemähter Wiese und Kuhmist. Hinter dem  vielleicht überkam Beppo Erschöpfung oder die Wiesen am Horizont sahen zu ein-
               Hotel lag ein Golfplatz, hinter dem Golfplatz eine Weide und hinter der Weide stand  ladend und saftig aus,  verlangsamte der Ochse seinen Lauf. Beppo  zögerte, ja fast
               noch ein Hotel. Ungefähr so groß  wie  unseres. Nur ausgebrannt. Die hölzernen  schien es mir, als bleibe er stehen. „Yoooaaahhh!! Yoooaaahhhh!!“ Meine Rippe pochte
               Fensterläden, die Blumenkästen, die Zirbelkiefernstuben, alles zu Holzkohle verglüht.  vor Schmerz, jede Prellung stach und brannte, und doch rief ich es, wieder und wieder.
               Sollte ich hineingehen? Die Ruine erforschen? Ich konnte mich atmen hören.  Ich musste es tun, so laut ich nur konnte. „Yoooaaahhhh!!“ Beppo nahm wieder Fahrt
               „Yoooaaahhhh!!“ Dann  wieder, noch lauter: „Yoooaaahhh!!“ Der Schreck riss mich  auf. Er lief an den anderen Ochsen vorbei, erreichte die Ziellinie und siegte. Und sein
               herum und ich sah es: Eine Kuh rannte auf mich zu. Und ein Mensch. Aber der rannte  junger Reiter bekam einen Siegerkranz um den Hals gehängt und reckte beglückt die
               nicht neben der Kuh. Der saß auf ihr. Und johlte: „Yoooaaahhh!“ Ein Junge, aber viel  Faust. Meine Rippe schmerzte noch tagelang, die Prellungen brannten und meine
               älter als ich. Vielleicht 18, 19 Jahre. Dicke Woll strümpfe trug er, die bis zur Wade reich-  Stimme klang kratzig-heiser. Ich habe mich selten so gut gefühlt.



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