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REDINGS ESSAY




                        BEI LIEBE KLICKT‘S!







                                                       Ein Essay von Dominik Reding






       W    enn die Polizei uns erwischen würde, wollten wir uns mit dem Auftraggeber  subversives Handeln blieb glückhaft unbemerkt. Erst bei Tagesanbruch waren wir fertig.
            herausreden. Der klang allerdings ein wenig obskur: „Modellprojekt für Sexual-
                                                                    Im Weggehen sahen wir die ersten morgendlichen Pendler an den Plakaten vorbeiziehen.
       erziehung des Instituts für Sozialpädagogik“. Zu unseriös für die Polizei, vielleicht. Dabei   Die Arbeit meines Bruders würde gesehen werden! Ich freute mich. Dann wurde es still
       war das Institut ein Teil der Universität. Ein kleines, neon-helles, etwas muffiges, mit   um die Sache, kein Talk-of-the-Town, jedenfalls keiner, den wir mitbekamen. Nur eine
       GFK-Platten verkleidetes Büro am Ende langer Betonflure. Nicht unbedingt die Aura, die   Randnotiz in der Lokalzeitung. Ein ortsansässiges katholisches Gymnasium hatte sich in
       Begriffe wie „sozial“ und „Sexualerziehung“ evoziert. 100 Plakate wollten wir kleben.  einem Leserbrief empört. So wäre „die Jugend“ ganz und gar nicht! „Bei Liebe klickt‘s“
       Mitten in der Nacht, mitten in der Stadt. Ohne Erlaubnis. „Bei Liebe klickt‘s“ : ein an   würde zeigen, wie sehr sich die Sexualmoral der Jugendlichen deformiert habe. Schlicht
       Schulen gerichtetes Fotoprojekt für Jugendliche, veranstaltet von eben jenem Institut und   „pervers und abstoßend“ sei das Fotoprojekt, so das Fazit des Leserbriefs. Aber auch
       dem Jugendamt der Stadt. Liebe und Sexualität unter jungen Menschen sollte das Thema   dann noch blieb es still. Kein Rauschen im Blätterwald, keine Demo des Gymnasiums.
       sein, die gelungensten, aussagestärksten Fotos dann in einer Ausstellung im kulturge-  Nichts. Der Herbst kam, der Winter, das nächste Frühjahr. „Es steht drin!“ Mein Bruder
       schichtlichen Museum der Stadt präsentiert werden. So der Plan. Das Plakat sollte für das   lief mir entgegen, auf der Treppe im Elternhaus. Begeistert wedelte er mit der aktuellen
       Mitmachen werben. „Sex und Schule“, so hatte das Institut das Projekt in anfänglichem   Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Zu jener Zeit, als der „Spiegel“ noch
       Übereifer getauft. Und sich dann auf einen weniger provokanten, deutlich assoziativeren   das unangefochtene Leitmedium der Bundesrepublik war. „Da!“ Mein Bruder tippte auf
       Slogan besonnen. „Bei Liebe klickt’s“.Dieser neue Titel und das werbende Plakat stamm-  die aufgeschlagene Seite. Eine Abbildung seines Plakats und ein kleiner, launiger Artikel
       te von meinem Bruder. Sein erstes „richtiges“, gedrucktes Plakat. Es sollte die Umkeh-  zum Fotoprojekt „Bei Liebe klickt’s“ mit genüsslichen Hinweis auf die Moralkritik des hie-
       rung und Ironisierung der Erwartung zeigen. Kein                                        sigen katholischen Gymnasiums unter der catchy
       „Cannes“-Strandfoto, kein unbekleidetes Paar vor                                        Überschrift „Vergebliche Sexsuche“.  „Boah“,
       einer knipsenden, männlichen Fotografenhorde,                                           sagte ich. Mein Bruder nahm die nächsten Stufen
       sondern ein Kreis unbekleideter Fotograf*innen                                          im Sprung. „Ja, die Eltern werden staunen!“, rief
       um ein sich zärtlich-liebevoll umarmendes, sitt-                                        er. Ich hielt ihn fest. „Besser nicht.“ Den „Spie-
       sam bekleidetes Paar herum. Alle, FotografInnen                                         gel“ hatten sie abonniert, lasen ihn regelmäßig
       und das Paar, im selben Alter: Schüler kurz vor                                         und gründlich. „Vielleicht hören wir besser erst,
       dem Abschluss, also um die 19 Jahre. Und nicht                                          was sie zu dem Artikel sagen…“. Mein Bruder
       en face, nicht die Körper betonend und vorfüh-                                          schwieg. „…bevor Du Dich als Plakatgestalter
       rend, sondern vor neutral-weißem Hintergrund                                            outest“. Mein Bruder zögerte, dann legte er den
       und Boden, aus der Vogelperspektive fotografiert,                                       „Spiegel“ auf den Flurtisch, da, wo er immer
       gewollt kühl-abstrakt in der optischen Wirkung.                                         lag, bevor die Eltern ihn lasen. Abends nach der
       Mein Bruder sprach  seine Bekannten an, machte                                          Heftlektüre unterhielten sie sich. Das Plakat sei
       Termine, lieh sich eine anspruchsvolle Spiegel-                                         ein gewolltes „Mätzchen“ (sprach der Vater), das
       reflexkamera, suchte den geeigneten Raum. Da                                            katholische Gymnasium habe „Recht“ (folger-
       erreichte ihn, unerwartet und unangekündigt, ein                                        te die Mutter). Wir sagten zum Urheber nichts,
       Anruf des Institutchefs: Nein, das Foto werde der                                       sie erfuhren es nie. „Die Jugendlichen haben
       Hausfotograf des Instituts schießen, aber streng                                        Bedeutsames von sich gezeigt!“ Im neon-hellen,
       nach den Ideen meines Bruders, die Plakatge-                                            neutral weißen GFK-Büro des Instituts für Sozial-
       staltung verbliebe natürlich auch ganz bei ihm.  Foto: Benjamin Reding                  pädagogik fand nach der Ausstellungseröffnung
       Und so geschah es. Der Profifotograf schoss das                                         die Schlussbesprechung statt. Mein Bruder ging
       Foto, unter Neonlicht im Institutsbüro und nicht                                        hin. Der Leiter, ein Doktor der Philosophie, lobte
       aus der Vogelperspektive, sondern en face. Aber immerhin, die Freunde und Freun-  dieses und jenes, „ein Schritt nach vorn in dem Bestreben, Verständnis und Toleranz zu
       dinnen und Bekannten meines Bruders waren gekommen.  Acht junge, fast übermü-  fördern“, das Plakat ließ er unerwähnt. Nur einmal gab es von ihm verhaltene Kritik:
       tig-heiter gestimmte Menschen, die die FotografInnen und das verliebte Paar mimten.   „Das Thema Aids“ sei „von den Jugendlichen nicht behandelt worden“, es komme in den
       Inklusive meines Bruders, der jetzt nicht mehr der tatsächliche Fotograf war, aber als  Fotos „überhaupt nicht vor.“ „Leider“, murmelte mein Bruder zu sich selbst. Vor ein paar
       Fotografen-Statist einsprang. Das Foto wirkte nicht - wie erhofft - kunstvoll kühl-abstrakt,   Wochen, kurz nach dem Ende der Sommerferien, klingelte hier das Telefon. Die Abtei-
       sondern, auf dem grauen Büro-Filzteppich und bei kruder Beleuchtung, seltsam unpro-  lungsleiterin des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden war am Apparat. Sie dankte
       fessionell.  Aber ach, sei’s drum. Das Foto war, trotz alledem, doch noch ein Hauch  für die schnelle Zusendung des Aids-Plakats. Es sei jetzt auch online abrufbar, mit einem
       provokant geraten, das Poster-Layout jugendlich beschwingt, die Titelschrift speziell fürs   kleinen Erklärungstext des Museums. Heute klickte ich die Seite an. Mein Bruder hatte
       Poster entworfen und alles zusammen von meinem Bruder kreiert und schwarz auf vio-  als Reaktion auf die Kritik des Dr. phil. zusammen mit dem Jugendamt ein Plakat zum
       lett auf weiß gedruckt. Ich staunte und dachte: Das sollen alle sehen, das muss groß  Thema Aids („AIDS – Endstation Angst?“) gestaltet. Ganz nach seinen eigenen grafischen
       in die Innenstadt, in den Bahnhof, zum Rathaus, in der Einkaufsmeile, überall, nicht  Vorstellungen. Ich lese den Text des Museums: „Seine Plakatgestaltungen zeichnen sich
       nur aufs „Schwarze Brett“ von ein paar Schulen. Heimlich schnappte ich mir die Hälfte   durch ihre klare Botschaft und ästhetische Prägnanz aus. Seine Arbeiten sind Zeugnisse
       seiner Belegexemplare, rief zwei Freunde an und fuhr in die City. 100-mal klebten wir im   gesellschaftlicher Themen und Diskurse ihrer Zeit.“ Und ich denke: Wie gut, dass mein
       Schutz der Nacht „Bei Liebe klickt‘s“ auf Bauzäune, Reklametafeln, Stromkästen. Unser   Bruder in diese muffigen Büroräume des Instituts gegangen ist!


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