Page 58 - AIT1023_E-Paper
P. 58
REDINGS ESSAY
NIMBUS
DER MACHT
Ein Essay von Benjamin Reding
U ngewohnte TV-Bilder: ein US-Amerikanischer Präsident, der per Eisenbahn zu einem sewagen: Das „Zug-Sekretariat“. Ja, es existierte eine verkleinerte Ausgabe des rollenden
Staatsbesuch fährt. Wann geschah derlei zuletzt? Potsdam oder Jalta 1945? Bis dato
Kanzlerbüros für jedermann (der es sich leisten konnte) in allen Intercity-Zügen. Und dort
doch immer mit dieser Riesen-Boeing, die „Air-Force One“, die ebenso mächtig und gab es – wichtiger noch als die IBM-Schreibmaschine – die höfliche Sekretärin und ihren
bedeutsam wirkt, wie ihr Insasse wohl weltweit wirken soll. Und mit an Bord: dieses Schreib- und Postdienst (sie verkaufte sogar Briefmarken) und ein Telefon! Von dort, und
Automobil, auch so überdimensional überdreht, passend „the Beast“ genannt, das – so nur von dort aus, konnte man (wie ein Bundeskanzler) lange vor Internet und Mobile
die gern kolportierte Sage – jedem Atomschlag trotzen könne. Sei´s drum, nun also ein Phones aus einem fahrenden Zug telefonieren! Frequentiert wurde das fahrende Büro von
Zug. Und ein seltsam altmodischer, einfacher noch dazu. Gewiss nicht atomsicher, wahr- denen, die sich in ihrer Bedeutung den Staatschefs nahe wähnten: Anwälten, Geschäfts-
scheinlich nicht mal schallgedämpft. Das Design wirkte von – sagen wir mal wohlwollend leuten, Politikern und Menschen, fast ausschließlich Männern, die wenigstens einmal
– 1991, oder, vielleicht korrekter datiert, wie ein Zug aus den 1960ern, den ein überforder- – und sei es im fahrenden Büro eines IC-Zuges – mit Bundeskanzlern und Staatspräsiden-
ter Innenarchitekt innerhalb weniger Wochen irgendwie auf „modern“ trimmen sollte. In ten im Selbstwert gleichziehen wollten. Und Menschen wie mich, einem Fünftklässler
einem Bahn-Ausbesserungswerk weitab jeder Großstadt, mit den „schönsten“ Decken- nach einer Ferienreise, der zwecks Abholung seine Eltern anrufen sollte, aber in seiner
lampen, Hochglanzlack-Wandpaneelen und seidenen Wohnzimmergardinen aus dem jugendlichen Unruhe und Suche nach Speis und Trank im Abfahrtsbahnhof keinen Münz-
nächstbesten Baumarkt. Ein Zug-Foto machte besonders die Runde: Der US-Präsident fernsprecher gefunden hatte. Jetzt wartete ich vor dem Zug-Sekretariat, bang-besorgt,
mit ein paar Din-A4-Kladden (kein Laptop) in einer Art improvisiertem Arbeitszimmer an ob meine letzten sieben Mark reichen und mein 2. Klasse-Ticket mir auch das Warten
einer Art improvisiertem Schreibtisch. Jener ausstaffiert, wie es sich für präsidiale Büro- in der 1. Klasse gestatten würde. Ein älterer Herr, gebeugt am Stock, diktierte etwas,
möbel gehört: Etwas zu groß, etwas zu viel Klarlack, etwas zu viel Politur und etwas „Holz- schlurfte dann hinaus, und die freundlich-korrekte Sekretärin bat mich herein, fragte
kunst“ noch dazu: sechs dünne Intarsien-Steifen auf der Tischplatte. Machtvoll und nach nach der Nummer, wählte und gab mir den Hörer. Der Ruf ging raus, niemand nahm ab.
unermüdlicher Arbeit sollen sie aussehen, die mobilen Wirkungsstätten der Potentaten. „Du kannst es später ja nochmal versuchen.“ Sie lächelte freundlich-korrekt und dann:
Die Abteiltüren mit ihren abgerundeten Ecken, ihren Glasscheiben „Fünf Mark bitte.“ Jetzt reichte die Restkasse weder für weitere
in geätztem Milchglas und die Schiebefenster des Einsenbahnwa- Telefonversuche noch für ein Essen, aber immerhin noch für
gens verrieten jedoch die Herkunft des Waggons aus vergangenen ein Glas Mineralwasser. Ich ging hinüber in den Speisewagen.
Tagen, erinnerten an die Staatszüge längst verblichener Regenten, Ich war aufgestiegen in den Bereich der Erwachsenen, diesen
den Fotos ihrer Reisen in gedrucktem Zeitungs-Schwarz-Weiß: Hielt Moment galt es auszukosten. Eine Gruppe Geschäftsleute trank
die englische Königin nicht dereinst in einem prächtigen Privatzug Cognac, eine Gruppe Juristen Wein, drei Bahnbeamte Pils und
Hof? Winkten nicht Herr Chruschtschow und Herr Mao den jubeln- Korn und alle feierten wortreich und mit lautem, fast schrillem
den Massen aus den Fenstern ihrer Staatswaggons zu? Und gab Lachen ihre jeweiligen Erfolge. Der alte Herr mit der Krücke war
es in der alten Bundesrepublik nicht diesen Kanzlerzug? Irgendein auch da, er saß allein, trank einen Kaffee und rauchte filterlo-
Göring´scher Salonwagen aus der NS-Zeit, der nach dem Krieg eilig se Zigaretten. Und ich saß allein mit meinem Mineralwasser
zu Adenauers rollendem Büro umgebaut wurde? Kein Sonderzug am Tisch gegenüber. Sein Gesicht hatte ich irgendwo schon
als staatstragender „Leasure-Express“ mehr, kein aufwendiges Fotocollage: Benjamin Reding einmal gesehen. Im Fernsehen? Ein Politiker? Aber dafür wirk-
Dinieren, keine Marmor-Badewannen, keine Kristallleuchter und te sein Gesicht zu zerknautscht, zu müde, zu melancholisch.
Aussichtsabteile, nein, die neue Bundesrepublik gab sich fleißig Ein Schauspieler? Nein, dazu war er zu gebückt, zu in sich
und demütig-bescheiden. Kein Foto jener Jahre aus dem Kanzler- gekehrt, zu schweigsam. Ein Ansager? Nachrichtensprecher?
zug ohne den Köln-Bonner Landesvater am kargen Zug-Schreibtisch. Und seine Nachfol- Ein berühmter Maler vielleicht? Immerhin würde seine Kleidung dazu passen, alles
ger: Bundeskanzler Erhardt mit gewohnt dicker Zigarre, aber up-to-date mit Telefax und etwas nachlässig, aus der Zeit gefallen, bräunliche Cordhose und zerribbeltes Jackett.
Telefon, Kiesinger mit servilem Frühstückskellner in Habachtstellung, Willy Brandt am Er wurde von den anderen Gästen gesehen, aber nicht betrachtet. Im gediegenen
Abteilfenster im Bahnhof in Erfurt 1970, mit Spion Günter Guillaume vor dem Zug auf den Speisewagen war man „entre nous“, ein innerer Kreis, die gegenseitige Bekanntheit,
Gleisen im Wahlkampf 1972, Brandt mit Journalisten im übervollen Speisewagen kurz Bedeutung, Macht voraussetzend. Es dämmerte, die Gäste tranken mehr, prahlten
vor seinem Sturz 1974. Überhaupt oft Brandt und der Zug – er muss ihn gemocht haben. mehr, ließen all ihre Entscheidungen glänzen, glitzern, noch größer, besser, richtiger
Spätere Bilder fehlen, kein Schmidt, kein Kohl mehr am Zug-Schreibtisch, dafür Fotos werden. Der alte Herr schaute aus dem Zugfenster, betrachtete die Lichter der Städ-
vom Kohl im neuen Staatsflieger, fast zu schwer, zu rundlich, zu raumgreifend, selbst für te, dann drehte er sich zu seinem Kaffee herum und sah mich und ich ihn. Plötz-
den voluminös geratenen Airbus-A310. Die Zeit der Bescheidenheit als Staatsräson lag lich lächelte er und nickte mir zu. Freundlich-melancholisch. Ein Blick, Zustimmung
hinter den Kanzlern. Eigene Begegnungen tauchen aus der Erinnerung auf: der schon signalisierend, Zustimmung zu unserem gemeinsamen Schicksal, die beiden einzigen
ausrangierte Kanzlerzug auf einem Abstellgleis im Sauerland. Stille Sommerhitze, nur im Abteil zu sein – der eine krank, alt und auf Krücken, der andere ein erschöpftes
das Zirpen der Insekten im Unkraut des Schienenstranges. Verflogene Bedeutung, ent- Kind –, denen hier jeder Nimbus der Macht fehlte. Er zahlte, der Kellner nannte ihn
schlafene Wichtigkeit, blätternder Lack, Spinnweben in den erblindeten Fenstern. Und, beim Namen. In Köln, am Hauptbahnhof stieg er aus. Der alte Herr war Heinrich Böll.
plötzlich, heftig, die Erinnerung an einen Geruch. Kein Geruch, ein Duft, aus der Kindheit: Seit Joe Bidens Eisenbahnfahrt im Februar 2023 sind viele Staatschefs mit dem Zug
nach gebratenen Speisen, Zigarettenrauch und Erfrischungstüchern. Erinnerung an das nach Kiew gereist. Auch der Bundeskanzler. Ganz ohne Jumbo, ohne 200-Personen-
wummernde Geräusch einer IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine, die Silhouette einer Dame Delegationen, ohne Radar-Abwehr, ohne „Beast“ und ohne 80 Tonnen Kerosin. Die
hinter geriffeltem Glas, von Männern im Anzug, mit Aktentaschen unter dem Arm, oft einzige Wirkung des Krieges, die mir bis jetzt vernünftig vorkommt. Und ich erlaube
nervös wartend, vor diesem Einzelabteil, platziert zwischen der 1. Klasse und dem Spei- mir die Vermutung: Heinrich Böll vielleicht auch.
058 • AIT 10.2023