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REDINGS ESSAY




                                             OHNE IKONE







                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            S  tumm schlagen die beiden die Glocken. 100 mögen es sein, über dem Tresen bau-  Publikum lachte. „Noch eine Frage?“ In der letzten Reihe stand eine junge Frau auf, mit
                                                                          wachen Augen, kurzen Haaren und konzentriertem Blick. „Warum haben Sie so zwischen
               melnd. Stumm auch sprechen sie mit den Gästen, die „runde Deern“ und der mit
            Schiffermütze und Pfeife auf Seebär drapierte ältere, rundliche, schwitzige Herr, gewiss  den Beinen der Frauen gefilmt? Die Kamera so tief, die Köpfe abgeschnitten? Ich mochte
            der Wirt des knorrigen Etablishments. Und seine Hafenkaschemme nannte sich „Glocke“  das überhaupt nicht!“ Das Publikum wurde still. Keine höfliche Frage. Hier und da nervö-
            oder „Zur alten Glocke“ oder „100 Glocken“ oder sowas. Alles sehr „hamburgsch“ (mit  ses Husten. „Ich wollte das Bewegte zeigen ..., das Tanzen, die Grafik der Beine, das Ver-
            ein paar Matrosen am Tresen), alles etwas „verrucht“ (viele junge Frauen sind dabei, es  wischte der Bewegungen.“ Der alte Herr, gestützt auf seinem Stock, suchte nach den rich-
            wird geflirtet und geknutscht). Der Laden ist dicht bevölkert, rauchig, dämmrig, aber hin-  tigen Worten. „War doch ein Rotlichtviertel, ... das ... das sollte man spüren, mal etwas a-
            ter dem urig geschnitzten Tresen leuchtet es hell, überraschend hell. Geheimnisvoll sche-  nderes, als immer nur tanzende Paare.“ Er schaute im Kinosaal umher, unsicher, hilfesu-
            renschnittig wirken die Gäste vor dem lichtstarken Hintergrund. Fast wie ein Filmbild. Es  chend, dann zu Boden. „Mir hat es nicht gefallen“, sagte die junge Frau noch einmal und
            ist ein Filmbild! In kontrastreichem Schwarz-Weiß. Jetzt Musik, jazzig-hitzig. Dann: tan-  nahm wieder Platz. „Der zweite Film unseres lieben Gastes stammt von 1962,“ setzte der
            zende Paare, die Matrosen vom Tresen zusammen mit jungen, hübschen, vielleicht auch  Moderator sofort nach, angespannt lächelnd. „Schafhirten im Lüneburger Land“. Wieder
            „leichten“ Mädchen. Dann ein Kameraschwenk herunter von den übermütig-trunkenen  Dunkelheit. Hie und da noch Gewisper. Auf der Leinwand: die Weite der Lüneburger Hei-
            Gesichtern, herab zu den tanzenden Beinen, zu den Röcken und Strümpfen der tanzen-  delandschaft, dann die derben Schuhe eines Schäfers, dann die Schafe und ihre Lämm-
            den Frauen. Der Blick verweilt dort, ausgiebig. Jetzt, schneidig, männlich-markant, etwas  chen. Das Publikum entspannte. Im Dunkel der Projektion wandern meine Gedanken:
            onkelhaft, eine Kommentatorenstimme: „Hier, wo früher der Mief sein Gemüt, die See-  Eine architektonische Ikone des neuen Hamburg? Ist es nie geworden. Wer kennt ein Uni-
            leute ihr Bier und die Sünde ihr trauliches Plätzchen fanden, wird sich bald ein Büro-  lever-Hochhaus? Wohl kaum mehr als eine handvoll Architekturhistoriker. Dabei steht es
            hochhaus erheben, ein Skyscraper, hell, gläsern, kristallin.“ Harter Schnitt: Blick auf ein  immer noch, längst energetisch ertüchtigt. Bürobauten haben es schwer. Zur Ikone gehört
            Modell, tatsächlich sehr hoch, sehr gläsern, sehr kantig-dreieckig. Dann: Schnitt auf ver-  etwas Großes, Unfassbares, Transzendentes, ein Mirakel. Sicher nichts Materielles. Und
            winkelte Altstadtgassen, Fachwerkhäuser, Kontore, kleine                       das bleibt doch das Zentrum aller Büros, die Arbeit mit und um
            Handwerksbetriebe, Kneipen, Spelunken, Tanzlokale und eine                     das Materielle. Von der dritten Amazon-Mahnung bis zu der Ma-
            einfache, eilig aus Ziegeln errichtete Mauer mit schmalem of-                  yonnaise von Unilever. Mein Blick wandert, weg von den ge-
            fenem Holztor. „Das Hamburger Gängeviertel mit seinen licht-                   konnten Kameraschwenks über Heidelandschaft hin zu den Tü-
            losen Hinterhöfen, überbelegten Wohnungen, fehlenden Sani-                     tenlampen, Holztäfelungen, dem Katzengoldkitsch des 1950er-
            täreinrichtungen und (die Kommentatorenstimme klingt plötz-                    Jahre-Kinos. Ich erinnere mich an Filme, meine Filme, und
            lich amüsiert) der letzten innerstädtischen Bordelltrasse wird                 meine Versuche, in Hamburg einen Büroraum für meine Film-
            fallen. Platz machen für die neue Hauptverwaltung der Unile-                   produktion zu finden. Angebote gab es viele, bezahlbare nicht.
            ver-Werke. 21 Stockwerke aus Glas und Stahl. 2007 Fenster,                     Jeder dieser neuen Bürobauten hatte Eigennamen, so als wären
            2000 Angestellte, sieben Aufzüge, 20.000 Quadratmeter Büro-                    sie schon volkstümlich, eine Landmark, eine Bau-Ikone: „Alster-
            fläche. Kraftvolles Zeichen des Wirtschaftswunders, Meilen-                     palais“, „Harbour-View “, „The Significent“, „The Majestic“, „Elb-
            stein des Wiederaufbaus, mutiger Akzent der Stadtsilhouette, Foto/Grafik: Benjamin Reding  Palast“. Mehr aus Neugierde denn aus Realitätssinn ging ich zu
            architektonische Ikone des neuen Hamburg!“ Längst dröhnt                       einem der Besichtigungstermine, der Makler sprach (natürlich)
            die Musik dramatisch, ein Hauch Tschaikowsky, eine steife                      von „echten architektonischen Ikonen“. Das Haus lag im Kontor-
            Prise Wagner swingt mit hinein. Und die Kamera schwenkt                        hausviertel der 1920er-Jahre am Hauptbahnhof. Ich suchte nach
            über die Stadt, die Sonne bricht sich im Wasser der Binnenalster, die Möwen kreisen  der Hausnummer. Ah, da war es, und ich jubilierte. War es doch der vielleicht einzige Bü-
            über dem Hafen. Dann Dunkelheit, Knistern auf der nun leeren Tonspur. Das plötzliche,  robau, der es jemals wirklich zu echter Volkstümlichkeit, zu einer weltweit geschätzten
            helle Deckenlicht nach all der „Schummrigkeit“ schmerzt in den Augen. „Wunderbar!  „Ikone“ geschafft hatte: das Chilehaus von Fritz Höger. Ich betrat mit klopfendem Herzen
            Was für eine Kameraführung!“ Der Anzug tragende Moderator lächelt von der kleinen Ki-  die Einganghalle und wartete auf den Makler, der nicht kam. Dann erst bemerkte ich die
            nobühne hinunter ins Publikum. Filmabend im Metropolis-Kino am Hamburger Gänse-  falsche Hausnummer. Er meinte den Neubau gegenüber. Marmor-hochwertig, großglasflä-
            markt. Werkschau eines lokal bekannten Kameramanns. Seine Kariere begann, wie sein  chig glattglänzend, charakterlos und austauschbar, wie so viele Büroneubauten. Und ich
            erster Film, in den frühen 1960er-Jahren. Der Kameramann erhebt sich, mühsam, von  dachte an Daniel Libeskinds Kommentar zu derlei Architekturen: „You know how it looks
            einem Gehstock gestützt, schlohweiß, uralt. Das Publikum applaudiert. „Jetzt dürfen Sie  like, before you are entering it.“ WÄÄHHH! Ein Schrei. Ich riss den Kopf hoch, zur Lein-
            gerne Fragen stellen!“, sagt der Moderator. Das bei Meisterwerken stets überkritische,  wand: Die Geburt eines Kindes, in Großaufnahme. Längst lief ein anderes Werk des Ka-
            bei Fingerübungen betont generöse Cineasten-Publikum fragt heute höflich: Wie wurde  mermanns. Das erste Lebensjahr seines Sohnes hatte er filmisch begleitet, von der Geburt
            das Licht gesetzt, der Schwenk bewältigt, jene komplexe Kamerafahrt gedreht? Mit brü-  bis zu den ersten Worten: „Mama, Papa, Film.“ Die Kamera immer nah an den Gesichtern,
            chiger Stimme, schüchtern, gibt der alte Herr, sichtlich gerührt über das plötzliche Inter-  den kleinsten Bewegungen, an den Augen, in deren Blick die Welt erst entsteht. Ein be-
            esse an seinen „Frühwerken“ für NDR und Neue Wochenschau, Auskunft. Auch über das  müht sachlicher Kamerablick und doch voller Zuneigung, ja, soweit es eine Kamera ver-
            dann tatsächlich abgerissene Gängeviertel und dort errichtete Unilever-Haus, wie der  mag, voller Zärtlichkeit. Dann Saallicht. Kräftiger Applaus. Der alte Mann verneigte sich.
            Bau ein paar Jahrzehnte lang hieß. „Bei dem Modell-Dreh hatten wir große Schwierig-  Ehrlich berührt. Im Herausgehen sah ich ihn noch einmal, er stand am Rand des Foyers
            keiten. Das Ding wirkte so kalt und leblos. Ich habe es dann vor einer Rückprojektion ge-  und sprach mit der jungen Frau, leise, ernst. „Ja, Sie haben recht“, sagte er, „heute würde
            dreht, damit es wie bereits gebaut aussah. Aber unter den Scheinwerfern schmolz das  ich das Tanzlokal anders filmen.“ Dann gab er ihr die Hand, griff seinen Gehstock und ging
            Plastik, dann haben wir das Ding auf einen Kühlschrank gestellt, dann erst ging es.“ Das  gebeugt hinaus, zwischen den Baustellen, auf den regenassen Gänsemarkt".

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