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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL •  CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                          die artenreichen Blühflächen im Sommer. Manche kommen dafür von weiter her, weil
                                                                          sie in Artikeln oder Büchern über den Hof gelesen haben. Aber auch bei Bauherren, in
                                                                          der Fachwelt und bei Kollegen erfahren wir viel Zuspruch und Interesse. Es freut uns,
                                                                          wenn es eine Wertschätzung für Baukultur und unser naturschützendes Tun gibt.

                                                                          r 2020 ging durch die Presse, dass die Gemeinde Ihnen die gepachteten Weideflä-
                                                                          chen um den Hof ohne Angabe von Gründen nicht länger zur Verfügung stellen will.
                                                                          Ursprünglich war das Betreiben von Weidewirtschaft aber Voraussetzung für die
                                                                          Übernahme des Hofes. Ist in dieser Hinsicht eine Entscheidung gefallen?
                                                                          Bislang noch nicht. Wir haben es mit Gesprächen und Fürbitten versucht. Auch zahl-
                                                                          reiche Besucher, Förderer, Ämter und Einwohner Schönwalds haben dies getan, aber
                                                                          aktuell bleibt leider nur der Weg einer gerichtlichen Klärung. Wir bedauern das, ins-
                                                                          besondere, da wir uns auf die versicherten Zusagen verlassen hatten und der gesamte
                                                                          Betrieb des Hofes, welcher so gut und rund läuft, davon abhängt.


                                                                          r Wie finanzieren Sie den Unterhalt dieses so großen Hofes?
            Fotos: Kluge Gössel                                           Die aufwendige, naturschützende Bewirtschaftung der Flächen um den Hof wird aus
                                                                          Fördermitteln der Europäischen Union in Form von Pflegeverträgen unterstützt. Daraus


                                                                          um vom Aussterben bedrohte Haustierarten – finanzieren wir die laufenden Kosten.
            Die Berg-Landwirtschaft liegt auf 1000 Meter Höhe. • The mountain farm is located at an altitude of 1000 metres.   und aus den Erlösen aus dem Zuchtverkauf unseres Tiernachwuchses – es handelt sich
                                                                          r Auch Veranstaltungsflächen stehen in Ihrem imposanten Hof zur Verfügung? Was
                                                                          boten Sie bisher an und gibt es Pläne für die Post-Corona-Zeit?
                                                                          Bislang hatten wir Führungen für denkmalgeschützte Bauten, einen Weihnachtsmarkt,
                                                                          offene Hof-Tage sowie Fachtagungen, beispielsweise für die Schwarzwald-Akademie
                                                                          und für proHolz Baden-Württemberg. Geplant sind die Naturwochen, eine Initiative
                                                                          des Landes Baden-Württemberg, aber auch Führungen des Heimat- und Denkmal-
                                                                          schutzvereins Baden-Württemberg. Diese geplanten Veranstaltungen mussten leider
                                                                          wegen der aktuellen Situation pausieren. Sobald es die Verhältnisse wieder erlauben,
                                                                          holen wir diese und andere Ideen nach.

                                                                          r Etwas Neues zu wagen erfordert eine ganze Menge Mut und Durchhaltevermö-
                                                                          gen. Hat das Projekt Kienzlerhansenhof Ihre Erwartungen erfüllt, und wie sieht Ihre
                                                                          langfristige Perspektive aus?
                                                                          Der Kienzlerhansenhof war und ist für uns auf vielen Ebenen eine gute Schule und
                                                                          Erfahrung. Das schließt das klimaneutrale, nachhaltige Bauen, das Thema Arbeits- und
                                                                          Wohngesundheit mit dazu passenden Baustoffen und Materialien, den Umgang und
                                                                          Erhalt historischer Bau- und Handwerkskunst, die Funktionsabläufe in einem Schwarz-
                                                                          waldhof und vieles mehr ein. Insofern haben der Hof und das atmosphärische Leben
                                                                          in ihm unsere Erwartungen mehr als erfüllt. Langfristig möchten wir für das Hofgut und
            Ingolf Gössel bei der Heuernte, ... • Ingolf Gössel making hay, ...   seine Flächen noch mehr tun, zum Beispiel die dazu gehörenden Nebengebäude, wie
                                                                          den Speicher und das Backhaus, wieder aufbauen. Es gibt noch viele Ideen.
            ... die Rinder im Stall freuen sich über das Futter • ... the cattle in the stable are happy about the fodder.
                                                                          r Nicht wenige Städter sehnen sich nach dem Land. Sind Sie denn im Schwarzwald
                                                                          heimisch geworden? Und würden Sie „es wieder genauso machen“?
                                                                          Unsere Städte bedürfen dringend eines neuen Denkens, einer Umgestaltung und Stei-
                                                                          gerung der Wohn- und Lebensqualität vor dem Hintergrund wachsender Dichte und
                                                                          Bevölkerungszahlen, Lärm- und Abgasemissionen, Staus, Baustellen sowie steigender
                                                                          Lebenshaltungskosten, Miet- und Kaufpreise. Wir können verstehen, dass angesichts
                                                                          dieser Umstände die Sehnsucht nach Ruhe, Freiraum, Natur, guter Luft und ausrei-
                                                                          chend Platz für die Inhalte des Lebens wächst. Viele verbinden damit das heile Idyll
                                                                          des Lebens auf dem Land, haben aber oft Vorstellungen, die nicht der Realität entspre-
                                                                          chen. Natürlich sind Vorteile des Wohnens und Arbeitens auf dem Land gegeben. Aber
                                                                          es sind damit auch Anstrengungen und Herausforderungen verbunden, die es zu mei-
                                                                          stern gilt. Im Schwarzwald und seiner Natur sind wir heimisch geworden. Um dies
                                                                          auch mit seinen Bewohnern zu werden, braucht es Offenheit, Geduld, ein gutes Ge-
                                                                          spür, Einfühlungsvermögen und eine gute Portion eigener Arbeit am und um den Hof.
                                                                          Das wird gesehen und geschätzt. Die Kontakte sind viel näher, direkter, aber auch ab-
                                                                          tastender und skeptischer als in der Stadt. Wenn man dann aber Freundschaften ge-
                                                                          schlossen hat, sind diese echt und herzlich. Vieles, jedoch nicht alles, würden wir wie-
                                                                          der genauso machen. Auch wir lernen aus Erfahrungen und würden manche Dinge,
                                                                          welche wir – damals als Neulinge – gedacht haben, bei einem „wieder“ sicher beherz-
                                                                          ter und noch besser angehen.

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