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REDINGS ESSAY
FINGER WEG!
Ein Essay von Benjamin Reding
U nter uns. Vermutlich bin ich für die aktuelle Kolumne eher weniger geeignet. Ich abblicken. Edel die Aussteller, edel das Publikum, edel auch die bibliophilen Kapriziosen:
von Luther-Bibeln bis zu Werther-Erstausgaben, von der Schedel’schen Weltchronik bis
gehe nämlich nicht so gerne einkaufen. Natürlich gibt es immer die Frage, ob Ein-
kaufen (jenseits von festem Schuhwerk und Grundnahrungsmitteln vielleicht) in einer zu Handschriften des Königs Friedrich, den man den Großen nennt. Auch ein paar Archi-
Überfluss- und Wegwerfgesellschaft nicht grundsätzlich etwas Unmoralisches, ja zutiefst tekturbücher lagen in und vor den Vitrinen: Palladios „Quattre libri dell´archittetura“, Le
Verwerfliches an sich hat. Die Frage, ob nicht das Übers-Ohr-Hauen ein unverzichtbares Corbusiers „Vers une architecture“, die Bauhaus-Bücher und, finanziell gerade noch im
Grundprinzip des Kaufens ist, der Eindruck, das Ressourcen verschwendet, Arbeitskräfte Bereich des Denkbaren, Alexander Kochs „Farbige Räume der Neuzeit“ von 1926. Das
ausgebeutet und nahezu alles Unverkaufte auf den Müll wandert (statt verschenkt zu schwergewichtige Buch lag sogar vor der Vitrine, also bereit, durchgeblättert und be-
werden); auch wenn ich diese Überlegungen komplett beiseite lasse, bleibt es dabei: Ich staunt zu werden (dachte ich und tat ich). Und wieder, es war ein Zufall, war ich mit mei-
gehe nicht gern einkaufen. Und ich bin nicht der Einzige! Wer kennt noch Roland Klick? nem Bruder unterwegs und wieder, es war kein Zufall, erscholl aus der der nächsten Um-
Dabei war er einmal fast so berühmt wie Fassbinder, Schlöndorff, Wenders und Herzog, gebung eine ermahnende Stimme: „Finger weg! Das ist nicht zum Anfassen!“ Und wie
seine Zeitgenossen und Regiekollegen. Sein bester Film hieß „Supermarkt“. Eine Loser- von einer unerbittlichen Geheimpolizei alarmiert, sprang der Buchhändler auf und ver-
geschichte, angesiedelt im Hamburg der 1970er-Jahre. Ein junger, einfacher Kerl von staute das Werk in der nächsten, fest verschließbaren Vitrine. Machen wir uns nichts vor,
Unten sucht sein Glück und findet nur die Reeperbahn, den Strich und die Drogen. Der jeder, der den Einzelhandel vergangener Jahre kennt, weiß, warum er sich in einer Dau-
dem Film seinen Titel gebende Supermarkt taucht nur beiläufig auf, der junge Kerl ver- erkrise befindet – mit und ohne Corona. Wie zur Bestätigung, wie zum (ungewollten)
sucht dort einen Überfall, und auch der scheitert. Aber der Titel passt. Klick hatte ein Hohn trieb es mich, zufällig und diesmal allein, vor einigen Tagen in die Hauptgeschäfts-
gutes Gespür für Drehorte. Die damals noch neue Welt der Selbstbedienungsläden, der straße einer Ruhrgebietsstadt. Ich ging, die Zeit zwischen den Zügen reichte knapp aus,
Schnellimbisse, der Fußgängerzonen und Einkaufszent ren. Orte, denen die Anonymität, die ganze Strecke. Ein Shoppingcenter macht den Anfang. Was wurde nicht alles verspro-
das Materielle, das Inhumane allzu deutlich in chen, um den Geschäftstyp attraktiver zu ma-
die Fassaden, die Gestaltung, die Einrichtungen chen: Mehr Licht, größere Innenhöfe, mehr Trep-
geschrieben steht. Nach einer durchfrorenen pen, mehr Lifts, mehr Grün, Kunstwerke und Kla-
Nacht am Hauptbahnhof landet der junge Ver- viermusik. Die Kunst (ein Springbrunnen), das
lierer in einem Stehcafé in der Mönckeberg- Licht (Spots statt Neon) und die Klaviermusik
straße, in dem selbst der dampfende Kaffee den (vom Band) gab es, nur die Besucher fehlten, bis
Zuschauer nicht mehr zu erwärmen vermag; auf fünf bullige Wachmänner, die mich kritisch
den Showdown mit der Polizei platziert Klick in beäugten. Und ich erinnerte mich an Roland
die Einfahrt des SAS-Hochhauses am Dammtor, Klicks „Supermarkt“ und seine kalten Drehorte,
eine surreale Welt aus Betonunterzügen und nur dass die Kacheln hier Travertinplatten waren.
grell-orangenen Kacheln. Klick erkundete den Ganz am Ende der Geschäftsstraße, die Sonne
Zeitgeist. Es war kein hoffnungsvoller. Vielleicht stand schon tief, erreichte ich das Spielzeugge-
blieb Roland Klick und sein „Supermarkt“ auch schäft. Ja, das mit dem Hund und dem Hasen.
deshalb nur ein Insider-Tipp. „Räumungsverkauf!“ Die Schilder prangten auf
Zeitgleich in der Realität, 300 Kilometer ent- allen Schaufenstern. Und etwas kleiner, handge-
fernt: Das Spielzeuggeschäft war eine Legende. schrieben an der Tür: „Geschäftsaufgabe: 31. Juli“
Kaum ein Kind im Ruhrgebiet, das nicht wenig- Die Regale standen schon leer, auch die Ecke mit
stens einen Lego-Baukasten, einen Teddybä- den Steiff-Tieren war ausgeräumt, nur ein wohl
ren, ein Puppenhaus aus jenem Laden am nie wirklich für den Verkauf gedachter Riesen-
Ende der Haupteinkaufsstraße sein Eigen nen- Stofflöwe wartete noch im Schaufenster, herun-
nen durfte. Vor Weihnachten führten die Foto: Benjamin Reding tergesetzt von 499 Euro auf 450 Euro. „Die wer-
Schlangen der Wartenden bis weit auf das Trot- den es nie lernen“, dachte ich, nahm als Erinne-
toir hinaus. Und in jedem Herbst, ganz harm- rung an glückliche Kinderstunden einen Schlüs-
los, ohne erklärlichen Grund, gingen unsere Eltern mit uns hinein und schauten auf- selanhänger-Stoffbären für 2,99 Euro vom Grabbeltisch und stelle mich an die letzte noch
merksam zu, was uns da so gefiel. Ich entdeckte ein Steiff-Tier, einen schlafenden besetzte Kasse. Vor mir wartete eine Frau im Rollstuhl. Sie kämpfte damit, einen Legoka-
Hasen mit flauschigem Fell und Samtstoff in den Ohren, mein Zwillingsbruder einen sten zum Kassentisch hochzuhieven. Plötzlich stand die Kassiererin auf, ging zu ihr, fragte
Hund, auch von Steiff, auch schlafend, die vier Pfoten entspannt von sich gestreckt. Mit freundlich, ob sie ihr das abnehmen könne, kassierte und half, ohne jeden Von-oben-
unkontrollierbarer Freude liefen wir auf die schlafenden Tiere zu, nahmen sie vorsich- herab-Ton, den Kasten in einen am Rollstuhl baumelnden Rucksack zu legen, dann öff-
tig aus dem Regal, betasteten das weiche Fell, bestaunten den Samt in den Ohren und nete sie noch die Ladentür und kehrte mit einem kurzen, entschuldigenden Blick zu uns
ließen die beiden, sie kannten sich gewiss gut, miteinander reden. „Finger weg!“ Eine Wartenden zurück. Es wäre nicht nötig gewesen, niemand beschwerte sich. Ach, hätten
feste Erwachsenen-Hand legte sich auf unsere Schultern. „Nur Rumspielen geht nicht, sich die Einzelhändler früher an einen solchen Ton, einen solchen Umgang mit ihren Kun-
das muss man schon kaufen!“ Der glatzköpfige Ladenangestellte betrachtete uns voller den erinnert. Ich stöhnte es leise zu mir selbst und zahlte.
Missbehagen, nahm uns dann die Stofftiere ab und stellte sie zurück ins Regal. „Nicht Epilog: Kälte kam, Schnee fiel (ja Schnee, so lange ist es her), dann nahte das Fest, die
noch einmal!“ Dann ließ er uns gehen. Und wir sagten unseren Eltern davon nichts Glöckchen schellten und wir Kinder liefen die Treppe hinunter zum Wohnzimmer mit
und schlichen mit gesengtem Kopf aus der der gläsernen Ladentür. Baum und Gabentisch. Und unter den Kerzen, es war nicht zu glauben, lagen der Hund
Drei Jahrzehnte später, ebenfalls in der Realität: Eine Antiquariatsmesse im Innenhof des und sein treuer Begleiter, der Hase, friedlich schlafend nebeneinander. Natürlich hatten
Berliner Zeughauses, dort, wo Schlüters Masken sterbender Krieger auf die Besucher her- Mama und Papa gemerkt, was uns gefiel, und die beiden Stofftiere heimlich gekauft.
042 • AIT 9.2020