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REDINGS ESSAY

                                       DER STEWARD




                                     UND SEIN GRAF





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





           D   er See spiegelte. Hartes Sonnenlicht. Warme Windstille. Die Ufer, die Städtchen,  uns im „Graf Zeppelin“, selbst bei Sturm, nie.“ Als die Sache mit dem Fliegen endlich
               sogar die Alpen: gestochen scharf. Das Sportboot zerriss die glatte Fläche, schäu-
                                                                         geschafft war, nahm fast zeitgleich der nächste übermenschliche Wunsch Gestalt an:
           mend, laut, fast fliegend über dem See. Der alte Herr am Steuer zeigte hierhin und dort-  nun auch im Äther zu leben, in den Wolken zu wohnen! Erst mithilfe der Wolkenkratzer,
           hin, rief gegen den Motorlärm: „Da hinten stand unsere Werft. Damals mit den beiden   die schnell höher und höher wuchsen: Woolworth Building, Chrysler Building, Empire
           größten Stahlhallen Europas. 250 Meter lang, 60 Meter hoch, 50 breit. Zu Kriegsbeginn   State Building, gekrönt von Frank Lloyd Wrights Idee eines „One-Mile-High“-Skyscrapers
           wurden sie gesprengt. Sie wären ein Angriffsziel, haben die gesagt.“ Schwimmen können   in Chicago: mit schwindelerregenden 1609 Metern Höhe ... Aber selbst in dieser futuri-
           die Menschen, rennen, springen, tauchen, klettern, analytisch-kooperativ denken. Flie-  stischen Ekstase: Es bleib beim „Kratzen der Wolken“, nicht mehr. Nur die russischen
           gen können sie nicht. Das ist ein Manko, ein Defizit. Die Menschen empfinden es fast als   Architekten jener Jahre träumten noch radikaler. 1928 entwirft der Architekturstudent
           Kränkung ihrer Ehre als Homo sapiens. Jeder Spatz kann es, jede Mücke, jede Stubenflie-  Georgi Krutikov für seine Diplomarbeit eine „Fliegende Stadt“ – Hochhaussäulen aus
           ge, nur der Mensch, die „Krone der Schöpfung“: Weitsprung 8,95 Meter, dann ist Schluss.  Glas und Stahl, rundherum mit Wasserstoffzellen befüllt, friedlich am Firmament dahin-
           Also mussten sie es können, koste es, was es wolle! Der alte Herr stellte den Motor ab.   treibend. Symbol einer neuen, besseren Zeit, in der der Kommunismus schafft, was
           „Viel zu laut“, sanft schaukelte das Boot im sich beruhigenden Wasser. „Ich wollte Ihnen   selbst das Christentum stets nur versprach: tatsächlich im Himmel zu wohnen. Dennoch,
           doch was erzählen ... Also, vier Tage dauerte die Fahrt von Friedrichshafen bis Rio de  die Naturgesetze und auch die der Ökonomie blieben in Sowjet-Russland wie weltweit
           Janeiro, da half uns der Passat-Wind, und fünf Tage zurück. Ein Schnelldampfer brauchte   in Kraft, die kühnen Visionen vom Wohnen im Äther Papier. Nur einmal, aber immerhin
           allein für die Hinfahrt zwei Wochen ... Da hinten,                                      einmal, wurde die Vision zur Realität: „Für uns,
           bei Konstanz, haben wir immer eine Schleife gezo-                                       die Mannschaft, waren das ja keine Reisen, wir
           gen, damit die Passagiere gleich etwas Schönes zu                                       wohnten an Bord, während der Weltfahrt fast
           sehen bekamen.“ Die von ihrem Flug-Unvermögen                                           fünf Wochen. Essen, Waschen, Schlafen, Arbei-
           gekränkte Spezies des Homo sapiens versuchte                                            ten, alles in 300, manchmal in 1000 Meter Höhe.
           es mit Muskelkraft und angeklebtem Federkleid,                                          Unser Platz war bescheiden, im „Graf“ schliefen
           aber die sehnsüchtige Selbstüberschätzung geriet                                        wir in Hängematten unter den Wasserstofftanks,
           zum Verhängnis: Ikarus stürzte ins Meer, seinem                                         die Passagiere in der Gondel, in der neuen „Hin-
           späten Nachfolger Otto Lilienthal reichte ein Holz-                                     denburg“ wurde es dann etwas völlig anderes,
           gestell mit Leinenbespannung und eine Böschung                                          ein fliegender Palast mit 35 Schlafkabinen für 70
           bei Berlin zum letalen fliegerischen Scheitern. Da                                      Passagiere, sogar Kabinen für die Mannschaft,
           entschieden die Menschen: „Und bist du nicht wil-                                       Promenadendecks, Speisesälen, Schreibzimmer,
           lig, so brauch’ ich Gewalt!“ Das Luftmeer wollte,                                       Großküche, Bar, Rauchsalon und einem Gesell-
           nein, es musste erobert werden. Den Gebrüdern                                           schaftsraum mit Blüthner-Flügel aus Aluminium.
           Montgolfier gelang es. Mit einem Feuerchen und                                          Alles im Bauhaus-Stil. Ein Herr Breuhaus hat
           etwas heißer Luft. Warum war man nicht längst                                           es entworfen, so ein ganz Moderner, der war
           darauf gekommen? Fast zu einfach, der Weg zum                                           damals weltberühmt.“ Für einen kurzen Moment
           Himmel, ganz ohne Kraftmeierei und Muskel-                                              berührten sich Realität und Vision, Wunsch und
           spannung. Zu weich, zu ätherisch, zu harmlos fast                                       Wirklichkeit. Jetzt, im Luftschiff, wohnten die
           und nicht einmal lenkbar. Nicht lenkbar? Lenkbar  Foto: Benjamin Reding                 Menschen wirklich in den Wolken. „Auf unserer
           muss ein Luftfahrzeug sein! Bye bye Ballon, her                                         Rückfahrt aus Brasilien am 6. Mai 1937 erhielten
           mit den Motoren, Düsen, Raketen, all dem krie-                                          wir den Funkspruch aus Lakehurst, unser Schwe-
           gerischen Zeug, um die Schwerkraft zu bezwingen. Und dabei blieb es bis heute, mit  sterschiff sei explodiert, es gäbe viele Tote. Wir haben die Nachricht bis zur Ankunft in
           einer Ausnahme: In den Wolken wohnen, jedes Kind träumt davon und wohl auch jeder   Deutschland vor den Passagieren geheim gehalten. Das fiel uns schwer, wir kannten ja
           Erwachsene, zumindest jeder, der das Kind in sich nicht ganz vergessen hat. Auf dem   viele Menschen auf dem anderen Schiff ...“ Der alte Herr schwieg, betrachtete den Hori-
           endlosen Wolkenschaum lustwandeln können, darauf ein Haus errichten, es aus der  zont, die Städtchen am Seeufer, das harte Blau des Himmels. Dann: „Oh, Sie müssen
           Wolkenwatte formen, wie Iglus aus polarem Eis. Dann lässig auf der Wolkenterrasse  ja längst los!“ In Friedrichshafen, in Sichtweite des Hafenbahnhofs, landeten wir an.
           sitzen, in den weichsten Wolkensesseln dösen und die Beine über dem Wolkenmeer   „Man will vielleicht wieder ein Schiff bauen, hier am Bodensee, ein Starrluftschiff. Daran
           baumeln lassen, die Sonne im Rücken und eines der sieben Weltmeere darunter ...  arbeite ich, ehrenamtlich, als Berater.“ Er vertäute das Boot und war mit einem einzigen,
           „Fünf Maybach-Motoren, 12 Zylinder, je 570 PS. Mehr brauchten wir nicht. Das reichte   lässigen Sprung an Land. Ich kletterte, bemüht leichtfüßig, hinterher. Er betrachtete mich
           für die 180 Tonnen Eigengewicht, 45 Besatzungsmitglieder, 25 Passagiere und 11 Tonnen   genau dabei. Sein Blick verriet seine Frage: ob ich wohl als Luftschiffer geeignet wäre?
           Nutzlast je Flug. Es war ja kein Fliegen gegen die Elemente, sondern mit ihnen. Wasser-  Dann gab Herr Fischbach, erst Kabinenjunge, dann Steward, dann Navigator auf dem
           stoff ist leichter als Luft, Helium auch, das schwebt von allein, mit 120 Stundenkilometer   LZ127 „Graf Zeppelin“ mir, dem damals 15-jährigen, Luftschiff-begeisterten Teenager, zum
           Reisegeschwindigkeit. Die Motoren brauchten wir nur für die Lenkung und beim Fliegen   Abschied die Hand, drehte sich um und verschwand mit den geschmeidigen Bewegun-
           gegen den Wind. Eigentlich war sie überaus nachhaltig, unsere Art zu reisen.“ Der alte   gen eines geübten Luftschiff-Stewards in der Menge der Touristen, unerkannt um sein
           Herr lächelte, freute sich, mit seinen 82 Jahren auch tagesaktuelle Worte zu kennen.   Privileg, der wohl letzte von knapp 50 Menschen in der Weltgeschichte zu sein, der je
           „Und eine angenehme Art dazu, seekrank werden ja viele, luftkrank auch, aber bei  von sich sagen konnte, er habe wirklich in den Wolken gewohnt!

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