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                           Wo die Digitalisierung Einzug hält, braucht die  turen. Wir betrachten die Räume im Hinblick
                           Gestaltung mehr Spielraum. Wer täglich viele  auf ihre Proportionen zueinander, ihre Ausrich-  Frithjof Jönsson
                           Stunden zusammen an komplexen Projekten  tung und den Tageslichteinfall. Anschließend  bdia Bundesgeschäftsführer
                           arbeitet, der will sich mit seinem Gegenüber  geben wir den Räumen Struktur und zonieren
                           wohlfühlen. Lange Arbeitszeiten tun das ihre  die Arbeitsbereiche. Alles noch ohne konkrete  Was wurde vom Europäischen
                           dazu. Immer mehr Unternehmen sehen in  Überlegungen, was Gestaltung, Farbigkeit und  Gerichtshof (EuGH) konkret
                           ihren Büros auch ihre Visitenkarte. Innenarchi-  Material angeht, sondern rein nach Funktiona-  entschieden?
                           tektur  wird zur Markenarchitektur. Design  lität. Für den neuen Hauptstandort der Za-  In seinem Urteil hat der EuGH
                           auch eine Prestigefrage. Für uns ist das eine  lando Lounge in der Zeughofstraße in  festgestellt, dass die Regelung
                           positive Entwicklung, denn es bedeutet viele  Berlin-Kreuzberg prägten die Mitarbeiterinnen  der HOAI zum Verbot der
                           neue, spannende Projekte.              und Mitarbeiter mit der Liebe zu ihrer Stadt  Unter- bzw. Überschreitung
                                                                  und ihrem Kiez das Leitsystem für das sechs-  seiner Mindest- und Höchst-
                           Der  technische Fortschritt ermöglicht  völlig  geschossige Gebäude. Kleine Besprechungs-  sätze mit dem europäischen
                           neue Arbeitsprozesse. Serverzugriff  von  zu-  zimmer  tauften  wir auf Namen bekannter  Recht nicht vereinbar ist. An-
                           hause bedeutet, dass „Home Office“ schon  U-Bahn-Haltestellen. „Außen“ um die Etagen  sonsten wurde die HOAI nicht
                           heute oft praktiziert wird. Die Unternehmen  herum ließen wir gedanklich die S-Bahn – die  beanstandet. Preisorientierun-
                           sehen, dass sie durch die wachsende Beliebt-  Berliner Ringbahn –  fahren und benannten die  gen bzw. staatliche Richtpreise
                           heit der digitalen Heimarbeit ihre Büros wohn-  Meeting-Räume nach deren  Stationen. Für  werden durchaus als sinnvoll
                           licher gestalten müssen. Digitales  Arbeiten  größere Besprechungsräume und Konferenz-  angesehen, sodass die Leis-
                           erzeugt außerdem weniger Papierberge. Schö-  säle standen Lieblingsorte der Zalando-Lounge  tungsbilder und Honorartabel-
                           ner Nebeneffekt für uns Innenarchitekt*innen:  Belegschaft Pate. So kamen viele angesagte  len der HOAI auch nicht gegen
                           Der Bedarf an Stauraum ist deutlich kleiner ge-  Berliner Clubs zu Ehren und Gebäude mit lan-  EU-Recht verstoßen. Der Weg-
                           worden. So lassen sich Büroräume und ganze  ger Tradition, wie zum Beispiel die Berliner Phil-  fall des Verbots durch das Ur-
                           Büroetagen transparenter und offener gestal-  harmonie.                           teil des EuGH gilt ab sofort und
                           ten. Neben den eigentlichen  Arbeitsplätzen                                       muss von den deutschen Ge-
                           und Meeting-Räumen sind Küchen, Pausen-  Die Menschen im Blick behalten           richten in ihrer Rechtsprechung
                           räume, Außensitzplätze und Spielbereiche zu                                       beachtet werden.
                           sehr wichtigen Arbeitsbereichen für Austausch  Bei aller Flexibilität geht es immer um das
                           und Besprechen geworden.               Wohlfühlen am Arbeitsplatz. Vielen Mitarbei-  Welche Konsequenzen ergeben
                           Die entscheidende Frage lautet, wie offen der  tern ist Beständigkeit  wichtig, zu häufige  sich aus dem EuGH-Urteil für
                           Mensch für diese Form der Raumgestaltung ist?  Platzwechsel werden als unangenehm emp-  zukünftige Honorarforderun-
                           In einer aktuellen Umfrage befragt das Fraun-  funden. Desk Sharing ist Typensache. Es gibt  gen?
                  Titelbild: Besprechungsraum Tresor © DESIGN IN ARCHITEKTUR, Foto: Gregor Schuster, Darmstadt
                           hofer Institut Arbeitnehmer, was ihnen in ihrer  Menschen, die es als Befreiung sehen, jeden  Wichtig ist, dass eine schriftli-
                           Büroumgebung am wichtigsten sei. Rang eins  Tag einen anderen Arbeitsplatz zu haben, an-  che Vereinbarung zwischen den
                           belegt die Zufriedenheit mit der Möblierung. Es  dere empfinden dies als unangenehm und  Vertragsparteien getroffen
                           folgen der Wunsch nach geräuscharmer Akus-  überfordernd.                         wird, in der die Höhe der Vergü-
                           tik, Rückzugsmöglichkeiten zur Konzentration  Aber: Kein Bürobau, bei dem nicht die Techni-  tung eindeutig geregelt ist.
                           sowie Erholungs- und Pausenmöglichkeiten.  schen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) Anwen-  Nach wie vor kann hierbei auf
                           Auf die Frage nach negativen Aspekten wird ein  dung fänden. Dort  werden nicht nur  die HOAI Bezug genommen
                           zu geringer räumlicher Abstand zu Kollegen be-  Flächenbedarfe für unterschiedliche Funkti-  werden. Es sollte ausdrücklich
                           nannt. Es folgen  Störungen durch zu  viel   onsräume definiert, sondern auch Bewegungs-  festgelegt sein, ob die Mittel-,
                           Personenverkehr und das Gefühl ständiger Be-  flächen und die Größe  von Pausen- und  Höchst- oder Mindestsätze zu-
                           obachtung am Arbeitsplatz.             Gemeinschaftsräumen. Zufriedene Mitarbeiter  grunde gelegt werden. Wenn
                                                                  sind bessere Mitarbeiter. Ganz gleich also, wel-  eine solche Vereinbarung nicht
                           Die heutigen reversiblen Multi-Space-Konzepte  che Möglichkeiten der technische Fortschritt  getroffen wurde, wird man sich
                           ermöglichen sehr flexible Räume, die Verände-  bringt, den Weg zum Büro der Zukunft weist:  als Auftragnehmer aufgrund
                           rungen im Unternehmen mitmachen. Ein   der Mensch.                                des EuGH-Urteils später nicht
                           Segen, wenn Abteilungen wachsen. Insgesamt                                        mehr auf § 7 Abs. 5 HOAI beru-
                           ist in Deutschland noch Luft nach oben: Ein  Ingo Haerlin, Innenarchitekt bdia, DESIGN IN  fen können, welcher die unwi-
                           Drittel aller Befragten arbeitet weiterhin in Ein-  ARCHITEKTUR Lautenschläger,  Stil, Haerlin,  derlegliche Vermutung der
                           zelbüros. Nur rund vier Prozent profitieren von  Darmstadt. Der Artikel erschien ungekürzt im  Vereinbarung des Mindestsat-
                           flexiblen Arbeitsplatzkonzepten.       bdia Handbuch Innenarchitektur 2019/20.    zes regelt. In diesen Fällen wür-
                                                                                                             den dann im Streitfall die
                           Hineindenken in die Arbeitsprozesse                                               Gerichte nach den Regelungen
                                                                                                             des BGB auf die „übliche Ver-
                           Zuerst analysieren wir, ganz pragmatisch, die                                     gütung“ abstellen.
                           Funktionsabläufe im Unternehmen und die ty-
                           pischen Tätigkeiten. Gleichzeitig machen wir
                           uns ein Bild von den vorhandenen Raumstruk-                                       ... Fortsetzung auf Seite 149

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