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Hans Scharoun
1893 geboren in Bremen bis 1914 Architekturstudium TH Charlottenburg 1919 Übernahme Büro von Paul Kruchen als Freier Architekt, Breslau 1925–1932 Professur an Akademie für Kunstgewerbe,
Breslau 1926 Beitritt Der Ring 1927 Bau Wohnhaus Stuttgarter Weißenhofsiedlung Ende 1920er Bebauungsplan Großsiedlung Siemensstadt, Berlin und Ledigenheim Breslau 1947 Professur für Haus Schminke
Städtebau TH Berlin 1954–1959 Romeo und Julia, Stuttgart 1956–1963 Philharmonie in Berlin 1956–1968 Schulen in Lünen und Marl 1963–1969 Deutsche Botschaft in Brasília 1972 Tod in Berlin
Foto:
Fotos: Ralf Ganter / Stiftung Haus Schminke, Löbau
Frankfurter Küche mit Blick auf Anrichte, Richtung Essplatz • Kitchen with a view towards the serving cabinet Im Kinderspielzimmer gibt es ein extra „Ausstiegsfenster“. • Extra “escape window” in the children’s playroom
von • by Petra Stephan
D as Haus, was mir das liebste war, ließ sich der Fabrikant Schminke in Löbau in steindecke über dem Essplatz, die Lichtdecke im Wintergarten, die mit buntem Glas aus-
Sachsen bauen”, sagte Hans Scharoun über das Haus, das er 1930 für den Löbauer
gefachten „Bullaugen” in den Gartentüren oder die Leuchten in Halle und Wohnzimmer
Nudelfabrikanten Fritz Schminke entwarf. Der Bauherr wünschte sich „ein modernes das ungewöhnliche Raumerlebnis. Sie wurden alle eigens für das Haus entwickelt und
Haus für zwei Eltern, vier Kinder und gelegentlich ein bis zwei Gäste", die Bauherrin setzen durch Form und Farbe besondere, zumeist Licht-Akzente. Die Wirtschaftsräume
wollte ganz viel Licht, Luft und Natur, die – damals noch – drei Kinder ausreichend Platz mit Frankfurter Küche und das Schlafgeschoss mit mehreren Bädern sind im Gegensatz
zum Spielen. Die Umsetzung gelang extravagant und funktionell zugleich. Der gebogene dazu bewusst spartanisch gehalten – mit leicht zu reinigenden Oberflächen und platz-
Korpus mit Terrassen, Außentreppe und zahlreichen runden Bullaugenfenstern weckt die sparenden Einbauschränken. Besonders die Kinderzimmer gerieten auffallend klein. Um
Assoziation zu einem Schiff. Kein Zufall – Scharoun wurde 1893 in Bremen geboren und sich tagsüber darin aufhalten zu können, mussten die Betten an die Wand geklappt wer-
wuchs in Bremerhaven auf. Eindrücke aus der Hafenstadt wurden zu seiner Handschrift den. Ziel war es, die Kinder zu gemeinsamem Spiel ins Spielzimmer oder ins Wohnzim-
und flossen in viele seiner Bauten und Entwürfe mit ein: Bullaugenfenster eben, Stahl- mer als Familientreffpunkt mit Kamin, Flügel und riesiger Liegelandschaft zu locken.
treppen und -geländer, relingartige Brüstungen und Balkone sind typische Elemente, die Wenn abends der Kamin flackerte und alle Vorhänge an den Süd- und Nordfenstern
sich auch am Haus Schminke finden. Generell strebte Hans Scharoun stets ein harmo- sowie zum Wintergarten und zur Halle zugezogen waren, und dann musiziert oder vor-
nisches, lebendiges und funktionelles Miteinander von Gebäude und Landschaft an. gelesen wurde, entstand ein einmaliges atmosphärisches Raumerlebnis in abenteuerlich
Dahinter stand die Idee, die Form aus der inneren Funktion „organisch” zu entwickeln. zeltartiger Umgebung. Die farbig gestalteten Wände, Deckenfelder und Vorhänge sowie
Als Baugrundstück hatte Scharoun ein parkähnliches Gelände neben der Fabrik des die strukturierten Wand- und Deckenoberflächen trugen außerdem zu dieser warmen
Nudelherstellers vorgefunden, auf dem der Vater des Bauherrn bereits eine groß- Behaglichkeit der Räume bei. Aus allen Wohnräumen gelangt man direkt in die Frei-
bürgerliche Gartengestaltung hatte umsetzen lassen. bereiche mit Anbindung an die weitläufige Gartenanlage. Die gestaltete Herta Hammer-
bacher als ein dynamisches Verbindungsglied zwischen Architektur und Landschaft – der
Ausgesprochen familientauglich und kinderfreundlich sechsköpfigen Fabrikantenfamilie auf den Leib geschneidert. Dazu gehörten ein Natur-
teich zur Tierbeobachtung, ein Teich zum Baden und Schlittschuhlaufen, ein Gemüse-
Der letztendlich als Baugesuch eingereichte Entwurf – immerhin zogen sich die (Um-)Pla- garten, ein Kinderspielplatz, Viehställe, eine kleine Eisenbahnanlage, mit der die Kinder
nungen über drei Jahre hinweg – sieht eine Erschließung von Süden her vor. Das Haus von der Nudelfabrik in den Garten fahren konnten, ein Pavillon und eine Bühne am Rand
wird in der mittleren Ebene, im Erdgeschoss, über eine überdachte Vorfahrt und einen des Teiches, die zur Aufführung kleiner Theaterstücke genutzt wurde. Alle baulichen Ele-
Windfang betreten. Während links davon Sanitärräume, Mädchenzimmer und Zugang mente wurden in ihren Grundformen und Materialien im Garten fortgeführt, um eine
zur Küche liegen, ordnet sich rechts ein Riegel mit Kinderspielzimmer, Halle und Essplatz Synthese von Organik und Anorganik zu erzeugen.
an. Die einzelnen Funktionen waren durch raumhohe Vorhänge voneinander abtrenn-
bar. Aus der Erschließungsachse führt eine einläufige Treppe durch die zweigeschossige Wechselvolle und tragische Geschichte des Hauses
Halle auf die Galerie, von wo aus Gäste-, Schlaf- und Badezimmer erschlossen werden.
Der Wohnbereich kann zur Halle durch große Glas- oder Holzelemente geöffnet oder ge- Die Familie wohnte nur zwölf Jahre in ihrem Haus. 1945 wurde es von der Roten Armee
schlossen werden. Dadurch gehen die Wohnräume Spielen, Halle, Essen, Wohnen und beschlagnahmt. 1952 folgte die Enteignung durch den DDR-Staat. Bis 1989 wurde es als
Wintergarten fließend ineinander über. Großzügige Glasflächen beziehen zu allen Seiten Pionierhaus und nach der Wende als Freizeitzentrum genutzt. Die drei Töchter von Char-
den Garten und die Natur als erweiterten Wohnraum mit ein. Neben Weite und Trans- lotte und Fritz Schminke – der älteste Sohn fiel im Zweiten Weltkrieg – verzichteten 1993
parenz prägen vielfältige, sehr individuelle Gestaltungselemente, wie die Glasbau- großzügig auf die Rückgabe ihres Elternhauses unter der Maßgabe, dass es auch künftig
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