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Paul Schmitthenner


                1884 in Lauterburg im Elsass geboren 1902–1907 Architekturstudium an der Technischen Hochschule Karlsruhe und an der Technischen Hochschule München 1909–1911 Mitarbeiter im
                Büro von Richard Riemerschmid in München ab 1911 selbstständiger Architekt, Planung der Gartenstädte Carlowitz (Breslau), Staaken (Berlin), Plaue (Brandenburg) und Forstfeld (Kassel)
                1918-1945 Professor für Baukonstruktion und Entwerfen an der Technischen Hochschule Stuttgart, Planung zahlreicher Wohnhäuser in und um Stuttgart 1972 in München verstorben






























                Historische Aufnahme aus der Wohnstube • Historic photos of the living room

                von • by Dr. Uwe Bresan
                H   och oben in den Bergen von Tirol – noch innerhalb der Gemeindegrenzen der Stadt
                    Imst, aber mit sicherem Abstand zum brachial verbauten Weichbild der Touris ten -
                  hochburg – steht der sogenannte Lärchenhof auf einer einsamen Wiese am Waldrand.
                Lediglich zwei kleine Hotels, Bettenhäuser im spätmodernen „Tiroler Stil“, haben sich in
                den vergangenen 85 Jah ren bis auf Sicht weite angenähert. Ansonsten sind das Haus und
                seine nähere Umge bung bis heute unverändert geblieben. Er richtet wurde es 1932 von
                dem be kannten Stuttgarter Architekten und Hochschul professor Paul Schmitthenner als
                Ferienhaus für sich und seine Familie. In seinem Lärchenhof spielte der gefeierte und viel
                beschäftigte Archi tekt aus der Großstadt gern den urwüchsigen Bergbauern. Dass es nur
                eine Rolle war, sieht man dem „herrschaftlichen Stadel“, wie Bruno Reichlin das Haus
                einmal nannte, deutlich an. Alles ist ein wenig zu fein geraten, um tatsächlich das trocke-
                ne Herz eines Tiroler Bauern zu er wärmen. Der Grundriss ist schlicht und funktional.
                Einen Herrgottswinkel gibt es nicht. Allein die Konstruktion aus Lärchenholz be stimmt
                Maß und Form. Nur spärlich möb liert, ist alles auf das Notwendige und damit das
                Schöne reduziert. Kurz, das Haus ist modern, aber ohne seine Modernität zu betonen.  Seit 1932 steht der Lärchenhof auf einer Bergwiese bei Imst. • The Lärchenhof in the mountain meadow near Imst.
                Schmitt henner sprach in diesem  Zusammenhang gern  von der „Qualität des Un -
                scheinbaren“, ein Konzept, das in un serer heutigen Aufmerksamkeitsökonomie kaum
                noch tragfähig erscheint. Gleichwohl oder vielleicht auch gerade deshalb fasziniert mich  ein, dabei lagen schon damals mehr als 70 Jahre zwischen den Aufnahmen. Und so
                der Lärchenhof, seit ich ihn vor zwölf Jahren zum ersten Mal besuchte.   offenbarte sich mir das Besondere, das mein Freund mir zeigen wollte. Im Stu dium
                                                                              war ich ausschließlich mit den Werken der Klassi schen Mo derne vertraut gemacht
                Ein modernes Haus in den Bergen, aber keine alpine Architektur  worden. Dass die Ikonen dieses Stils – die Villa Savoye, das Haus Tugendhat oder die
                                                                              Stuttgarter Weißenhof-Siedlung – mit ihren flachen Dä cher und ihren strahlend wei-
                Damals stand ich kurz vor meinem Diplom an der Weimarer Bauhaus-Universität. Ein  ßen, kubischen Bau körpern anhaltende Sanie rungs  fälle wa ren, schien meine Lehrer
                guter Freund wollte mir etwas Besonderes zeigen und lud mich in das Haus ein, das  nicht zu stören. Schmitthenners Lärchen hof hingegen war augenscheinlich auch nach
                noch immer im Besitz der Familie des Architekten ist. Vor der Abreise besorgten wir  70 Jahre noch kein Sanierungsfall. Zugegeben, auf den ersten Blick wirkt das Holz -
                uns noch den be rühmten Text „Die Mo derne baut in den Bergen“ von Bruno Reichlin,  haus nicht sonderlich modern. Alles Kaprizöse und Extravagante der Bauhaus-
                in dem das Haus ausführlich be schrieben ist. Es ging uns dabei vor allem um die  Architektur geht ihm ab. In seinem Stan dardwerk zur „Ös ter rei chi schen Architektur
                Fotografien aus der Entstehungszeit des Hauses, denn wir pflegen bis heute auf sol-  im 20. Jahr hun dert“ betonte Friedrich Ach leitner, dass der Lärchen hof „keine Spuren
                chen Reisen ein etwas albernes Ritual: Ganz gleich, wohin wir fahren, wir versuchen,  von ,alpiner Archi tektur’“ zeige und meinte damit auch, dass sich die Modernität die-
                die historischen Auf nahmen nachzustellen. Im Lärchenhof angekommen, waren wir  ses Hauses eben nicht im Formalen erschöpft. Seine Qua litäten, so Achleitner weiter,
                verzückt. Denn alles sah noch genau so aus  wie 1932. Selbst die ursprünglichen  lägen vielmehr in der klaren Raum aufteilung und der so „selbstverständlichen hand-
                Möbel waren noch da: Schränke, Tische, Stühle und sogar der dreiarmige, hüfthohe  werklichen Konzeption“. Den An spruch der Moder ne  auf Zeit losigkeit erfüllt der
                Kerzen ständer, der auf den Fotos der großen Wohn stube so deutlich zu erkennen ist.  Lärchenhof, der so oder so ähnlich auch schon 1832 oder auch schon 1732 hätte ent-
                Am Rechner verglichen wir unsere neuen Bilder mit den Vorlagen: Sogar die Ma -  stehen können, damit auf bemerkenswerte Art und Weise. Der bekannte Münchner
                serungen im Holz der Wand ver kleidungen und auf den Bodendielen stimmten über-  Architekt Josef Wiede mann verglich Schmitt henners Lärchen hof in seiner so „ganz



                                                                                                                              AIT 6.2018  •  065
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