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SERIEN FRAU ARCHITEKT • MS. ARCHITECT
Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien
Skizze zur Erläuterung und Wegstudien Küche – Essplatz, 1927 • draft to illustrate kitchen-dining place, 1927 Schrittersparnis: Große Küche – Frankfurter Küche, 1927 • Step saving: Big Kitchen – Frankfurt Kitchen, 1927
Paris und London nach Istanbul und entwarf für das türkische Bildungs ministerium meh-
„Mittags haben wir nicht zuhause gegessen. rere Typenschulen. Dort wurde sie 1939 von ihrem österreichischen Architektenkollegen
Herbert Eichholzer für die (illegale) Kommunistische Partei Öster reichs (KPÖ) angewor-
Kinder haben wir keine gehabt.“ ben. Schütte-Lihotzkys aktive Mitar beit im kommunistischen Unter grund endete jedoch
bereits nach 25 Tagen, als sie zusammen mit einem leitenden KPÖ-Funktionär in einem
Kaffeehaus verhaftet und anschließend zu einer langjährigen Haft strafe verurteilt wurde.
zum Wohnzimmer ging anschließend als „Frankfurter Küche" in die Geschich te ein, denn Davon saß sie im Zucht haus Aichach in Bayern bis zu ihrer Befreiung 1945 durch die ame-
sie wurde innerhalb von wenigen Jahren in mehr als 10.000 Wohnungen eingebaut. rikanischen Truppen mehr als vier Jahre ab.
Parallel dazu setzte eine breite Bewegung zur Vereinfachung der Haushalts führung ein, die
auch die mögliche Einbeziehung von Frauenorganisationen in den Planungs prozess sowie Bis 1969 arbeitete sie als selbstständige Architektin
das fortschrittliche Leitbild der „Neuen Frau“ thematisierte. Eine Rolle, die Margarete
Schütte-Lihotzky als erste Architektin am Frankfurter Hochbauamt mit ihrem beruflichen Auf dem Weg zu ihrem in der Türkei festsitzenden Mann traf Margarete Schütte-Lihotzky
Erfolg und eigenen Lebensstil („Mittags haben wir nicht zuhause gegessen. Kinder haben 1946 in Bulgarien ein, kam dank ihrer Kontakte zur kommunistischen Partei in der Stadt -
wir keine gehabt. Mein Mann hat von vornherein im Haushalt geholfen.“) bis hin zum bau direktion in Sofia unter und begann, eine neue Abteilung zur Errichtung von Kinder -
zeittypischen Bubi-Kopf geradezu vorbildhaft verkörperte. Ihre Unter suchun gen zur ein rich tungen aufzubauen. Dabei entwarf sie weitere, teilweise realisierte Typenbauten
Rationalisierung im Haushalt wurden damals auch im Ausland viel beachtet. Denn auf der Basis des Pavillonsystems. Anfang 1947 kam sie dann gemeinsam mit ihrem Mann
Schütte-Lihotzky war diejenige, die die Ideen des Neuen Frankfurt besonders öffentlich- wieder in Wien an und erarbeitete dort das architektonische Konzept für die Aus stel lung
keitswirksam verbreitete: durch Vorträge und unzählige Veröffent lichun gen. Dabei beein- „Wien baut auf“. Zwei Jahre später wurde sie als staatlich befugte Zivil technikerin zuge-
flusste sie die weitere Küchenplanung in Amerika und Schweden so stark, dass die lassen, damit Mitglied der österreichischen Kammer der Architekten und Ingenieur konsu -
„Frankfurter Küche“ aufgrund ihrer weltweiten Rezeption als Vorläufer aller späteren lenten, und arbeitete anschließend bis 1969 als selbstständige Architektin: Sie entwarf
„Einbauküchen“ gilt und ihr gesamtes weiteres Werk in den Schatten stellt. Einfamilien häuser für private Bauherren, baute zwei Kindergärten für die Stadt Wien, ent-
wickelte ein variantenreich kombinierbares, später nicht ausgeführtes „Baukasten system
... unter der Bedingung, dass sie keine Küchen mehr machen muss. für Kinder tagesstätten“ (ab 1964) und realisierte zusammen mit verschiedenen Kollegen
mehrere Wohnhäuser und Bürogebäude. Etliche der kommunistischen Mit glieder der
Ernst May brach 1930 zusammen mit 17 seiner Mitarbeiter und Kollegen (darunter Mart Brigade May gingen wie Kurt Liebknecht und Hans Schmidt später in die DDR und waren
Stam und Walter Schwagenscheidt als Stadtplaner, Hans Schmidt als Spezialist für den dort dann in leitenden Positionen tätig. Sie besannen sich auf Schütte-Lihotz kys sowjeti-
Wohnungsbau und Wilhelm Schütte für den Schulbau) in die Sowjet union auf, um dort sche Studien und vermittelten ihr 1966 einen For schungs auftrag der Ostberliner
im Zuge des Aufbaus der Schwerindustrie an der Errichtung neuer Wohnsiedlungen mit- Bauakademie zur kritischen Analyse der ostdeutschen Kinder gärten, bei der sie erneut ihr
zuarbeiten. Auch Margarete Schütte-Lihotzky ging unter der Bedin gung, dass sie „keine Baukastensystem zur Verwirklichung vorschlug: jedoch ohne Erfolg, sodass die als Vor -
Küchen mehr machen muß“, mit der „Brigade May“ nach Moskau und war dort als läufer dieses Systems in der Wiener Rinnböck straße errichtete Kindertagesstätte (1961-63)
Leiterin der Abteilung für Kindereinrichtungen eines großen Stadt pla nungstrusts tätig. das einzige realisierte Gebäude blieb, an dem man ihr Konzept bis heute erkennen kann.
Dabei arbeitete sie unter anderem am Generalbebauungsplan der Stadt Magnitogorsk mit Durch ihre hartnäckig-konsequente Hinwendung zum Kommunismus manövrierte sie
und entwarf mit ihrer zeitweise bis zu 30 Mitarbeiter umfassenden Planungsabteilung sich während des Kalten Krieges im Westen lange Zeit ins gesellschaftliche Abseits und
neben Schulen, Kindergärten und –krippen auch Freizeiteinrichtungen für Kinder. Parallel erhielt in der Nachkriegszeit in Wien auch keine größeren öffentlichen Auf träge mehr.
dazu war sie auf der Werkbundsiedlung in Wien (1932) mit zwei Häusern vertreten. Trotz Daher engagierte sie sich in der Frauenbewegung und verschiedenen beruf lichen
der zunehmenden Repressalien blieben die Schüttes nach Mays Entlassung und Weg gang Orga ni sationen, nahm an internationalen Kongressen teil, verfasste Artikel und schrieb
(1933) weiter in der Sowjetunion. Bei einer längeren Asien-Reise besuchten sie den nach ihre Memoiren nieder. Ihre in verschiedenen Editionen erschienenen „Erinne rungen aus
Japan emigrierten Bruno Taut (1934). Anschließend erarbeitete Schütte-Lihotzky für das dem Widerstand 1938-1945“ prägen bis heute das Bild der Architektin Marga rete Schütte-
chinesische Bildungsministerium Richtlinien für den Bau von Kindergärten. Nach ihrer Lihotzky. Die erste Gesamtschau ihres Werks fand 1993 im Museum für ange wandte Kunst
Rückkehr nach Moskau entwarf sie für die sowjetische Akade mie der Architektur (1934- Wien statt, parallel dazu erschien mit dem Ausstellungskatalog, der bis heute als Stan -
36) eine Vielzahl von praktischen Kindermöbeln. Außerdem entwickelte sie zusammen dard werk zu ihrem Wirken gelten kann, eine umfassende Werkliste. Ab den 1980er-Jahren
mit Hans Schmidt mehrere Wohnungstypen mit variabler Nutzung, deren platzsparende wurde sie mit zahlreichen Architekturpreisen und Ehrungen ausgezeichnet. Sie starb weni-
Einrichtung es ermöglichte, mit sehr kleinen Wohnungs größen auszukommen. Schütte- ge Tage vor ihrem 103. Geburtstag am 18. Januar 2000 in Wien und ist auch weiter hin ein
Lihotzky verließ 1937 zusammen mit ihrem Mann die Sowjetunion, gelangte danach über wichtiges Vorbild für die ihr nachfolgenden Generationen von Architek tinnen.
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