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Redings Essay


              HINTER GLAS
















               Ein Essay von Benjamin Reding
               E  s war kein Hotel, keine Bar und kein Restaurant. Es war eine Bahnhofsgaststätte.  Stoffsymbol. Seine Stimme klang ernst, beunruhigt. Wie ein Pfarrer, der ein Teufels -
                                                                             symbol entdeckt hat. Was sollte ich antworten? Er hatte seine Antwort schon. Ich ver-
                  So stand es auf dem abgewetzten Schild über der Eingangstür: „Bahnhofs gast -
               stät te“. Eine Bahnhofsgaststätte mit  Zigarettenqualm, Biergeruch, Holzbänken und  suchte ein Lächeln. „Na, dass alle ohne Zwang zusammenleben. Ohne Fremdbe stim -
               Laminat-Tischen. Und es war Silvester. Nein, es war noch nicht Silvester, es war zwei  mung. In Frieden. Auf der ganzen Welt und...“ Er schwieg, drehte sich um, ging zu
               Stunden und vierzig Minuten davor. Aber jetzt standen wir am Hauptbahnhof in Erfurt  seinem Tisch zurück. Dann berieten die drei, leise, angespannt.
               und unser Anschlusszug war noch nicht da und wir mussten warten.   Der Wirt putzte die Gläser, der Kühlschrank surrte, der Ausguss gurgelte, das ältere
               Die Party würde der Kracher. Band aus Hamburg, DJ aus Berlin, Freunde aus ganz Euro -  Ehepaar trank den Tee. Jetzt schaute uns der Kleinere der Kurzgeschorenen direkt an.
               pa, und das alles liebevoll-schräg arrangiert in einer alten Jugendherberge bei Ilme nau.  Etwas glomm in seinen Augen. Vorfreude. „Wir sollten gehen. Gemeinsam, direkt
               Auf dem Bahnsteig zog der Wind. Minus zwölf Grad, wir warteten. Wir, das heißt mein  zum Gleis. Sofort.“ Ich sagte es zu meinem Bruder, so dass es unser Mitreisender
               Bruder und ich und dieser Herr im Trenchcoat. Er hatte uns im Zug angesprochen. Ob  nicht hören konnte. Mein Bruder nickte. „Der Zug kommt“, rief ich. Der ältere Herr
               wir auch zu dieser Silvesterfeier führen. Er sei der Papa des DJs und wolle endlich ein-  legte die Gabel beiseite und stand auf. „Aber nach der Uhr haben wir doch noch fünf
               mal mitbekommen, was sein Sohn da so macht.                                             Minuten“, murmelte er. „Die geht nach“, log
               Der Herr knöpfte sei nen Mantel zu, rieb sich die                                       ich. Der Bahnsteig  war menschenleer, das
               Wangen. „Las sen Sie uns reingehen, aufwärmen,                                          Durchatmen hier draußen tat gut. Den ersten
               was essen.  Wiener  Würstchen, die gibt es da                                           Schuss hielt ich für einen verfrühten Sil vester-
               bestimmt.“ Er schaute  zu den  warm-leuchten-                                           Böller. Dann noch einer. Und noch einer. Dies -
               den,  be schlagenen  Fensterscheiben  der                                               mal mit dem Geräusch von Metall auf Metall.
               Gaststätte hinüber. Ach, Silvester, da fließt                                           So  was hatte ich schon einmal gehört. In
               Alkohol, da gibt es Be trun kene, da gibt es auch                                       Westernfilmen. „Pijöing!“ Das kann nicht sein,
               Streit.  „Wir war ten bes ser auf dem Bahnsteig.                                        ich schüttelte den Kopf.  Wenn, dann  werden
               Der Anschlusszug kommt schon in 20 Minuten.“                                            die uns verprügeln, schlagen, treten, nicht er -
               Aber der ältere Herr fror bitterlich. „Ach, ein                                         schießen. Ich hörte Schritte, drehte mich um.
               Würstchen, das wä re schön“, sagte er. Wir gin-                                         Die Gaststättentür stand auf, die beiden Män -
               gen hinein. Dampfig-dämmerig quoll der                                                  ner liefen uns hinterher. Der Größere rannte
               Kneipendunst aus der Tür. Es war nicht viel los,                                        vor weg, der Kleinere umklammerte eine Pisto -
               keine Silves ter stimmung. Ein älteres Ehepaar                                          le. Und schoss. Nicht laufen. Gehen. Laufen,
               trank Tee, ein korpulenter Herr mit Halbglatze                                          das sehen die als Schwäche. Bestimmt. „Lauf
               stand hinter der Kasse einer Selbstbedienungs -                                         doch, lauf! Die schießen!“ Mein Bruder rief es
               theke. Bröt chen, Marsriegel, Kaffee, Tee, Kekse.                                       mir zu. „Pijöing!“ Ich lief.
               Drei junge Menschen um die 20, zwei Männer                                              Der Zug stand am Gleis. So ein alter Zug, mit
               und eine Frau, saßen beim Bier. Die Jungs, der  Foto: Benjamin Reding                   Abteilen. Mein Bruder, der ältere Herr, dann ich
               eine groß, der anderen klein, mit kurzen Haaren,                                        stolperten, kletterten, fielen hinein. Im Gang
               Springer stiefeln und Bomber jacke, die Frau,                                           kam uns die Schaffnerin entgegen. Aufgeregt,
               rundlich, mit Sweatshirt und Karstadt-Föhnwellenfrisur. Sie schauten zu uns herüber.  mit roten Wangen. „Verriegeln Sie die Tür!“ Ich brüllte. „Bitte, verriegeln!“ Sie drehte
               Unser Mitreisender bestellte zwei Würstchen mit Senf, wir Kaffee gegen die Kälte. Die  sich um, hantierte an Knöpfen. Die beiden Männer tauchten unter dem Fenstern auf.
               Milch flockte aus. Wir setzten uns nah an den Aus gang mit Blick auf die Bahnsteiguhr.  Klack, die Türverriegelung schloss. Im Zug ging das Licht aus. Wir stürzten durch das
               Noch 15 Minuten. „Der wird Augen machen, wenn plötzlich sein Papa da rumsteht.“ Er  Halb dunkel ins erste Abteil. Eine Tür hinter uns zumachen. Fest zu. Und wenn es nur
               lächelte, ließ Senf auf das Würstchen tropfen. „Das wird ´ne Riesengaudi.“   eine wackelige Abteilglastür ist. Sie rüttelten an der Zugtür. Wieder und wieder. Das
               Die drei schauten wieder zu uns herüber. Kritisch, prüfend, abwägend. Ja, ich hatte  Ge sicht des Kleineren von Zorn verzerrt. Er fuchtelte mit der Pistole. Und zielte auf
               Dreadlocks, mein Bruder einen blonden Zopf. Aber irgendwie linksradikal sahen wir  uns, durch die  Scheiben in das Abteil. Der Größere schob ihn beiseite.
               nicht aus. Aus den Augenwinkeln linste ich  zum Nachbartisch. Sie trugen keine  Ein Ruckeln, ein Zischen, der Zug fuhr los. Das Licht flackerte wieder auf. Auf dem
               Naziparolen auf den Bomberjacken. Sie redeten ruhig. Sie waren nicht betrunken. Es  Abteilboden kauerte eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie schaute uns an, fragend,
               wird schon nichts passieren. „Hab´ ich schon jahrelang nicht mehr gemacht, auf eine  angstvoll. Der ältere Herr zitterte. Schweiß lief ihm über das Gesicht. „Ent schuldigung“,
               Silvesterparty fahren.“ Unser Mitreisender lächelte verschmitzt. Der Zeiger der Uhr  sagte ich zur jungen Frau. Sie schwieg, rappelte sich hoch, setzte die Kinder auf ihren
               wan derte: Noch zehn Minuten. Stühle rückten. Die Größere der beiden Männer stand  Schoß, ein Mädchen und ein Junge. Sie hielt die beiden ganz fest.
               auf, ging auf uns zu, betrachtete mich, dann meinen Bruder. Wieder kritisch, prüfend,  Die kleinen Ortschaften neben den Gleisen leuchteten, draußen wirbelte Schnee. In
               abwägend. Der Aufnäher! Ich hatte ihn extra  zur Feier auf die Jacke genäht. Das  Ilmenau nahmen wir ein Taxi. Die Silvesterfeier soll toll gewesen sein. Mit Sekt und
               Anarchie-A, ganz groß. „Was bedeutet das?“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf das  Tanzen und DJs und Bands. Ich habe keine Erinnerung daran.



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