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REDINGS ESSAY

                                                        IN DEN




                               ERDBEERFELDERN





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





           E  in Essay über die Rütli-Schule wollte ich schreiben. „Rütli revisited.“ Festhalten, was   isn’t it good, Norwegian wood.“ Freundlich-sachlich, wie es ein braver, ordentlicher Päd-
              sich seit meiner Kolumne über die berühmt-berüchtigte Schule in Berlin-Neukölln  agoge machen soll, erklärte er den Inhalt, die etwas entlegeneren Vokabeln „biding my
           (AIT 5.2019), dem „Campus Rütli“, wie sich das Schulgelände jetzt zeitgeist-schick nennt,   time“, „crawled off“ und sagte, der Schluss sei ja doch etwas hart, man müsse nicht
           getan hat. Wollte mitteilen, dass der „Campus“ bis heute unfertig da liegt und die intellek-  gleich die Wohnung anzünden, wenn man mal scheitere. Das nächste Beatles-Lied, das
           tuell streng geratene Architektur des Schulneubaus schon jetzt alle Zeichen des Vandalis-  übernächste. Nun wurden die Stücke länger, die Texte komplexer: Was ist ein „eggman“?
           mus trägt, die für bestimmte Schulbauten in bestimmten „Problembezirken“ längst   Wer ist „Eleanor Rigby“? Was heißt „darning“? Was meint „A penguin singing Hare Kris-
           typisch sind, von den eilig auf alle erreichbaren Fassadenteile gesprühten Graffitis über die   hna“? Wir lauschten, nickten, stellten unsere Fragen, die mündliche Zeugnisnote fest im
           ausgekippten Schulhofmülleimer bis zu den eingeschlagenen Klassenfenstern. Wollte zei-  Blick. Dann hatten wir die Lieder auf dem Textzettel durch, die Aufgabe erfüllt, sogar
           gen, dass es nicht folgenlos bleibt, wenn ein Schulneubau von 2021 vom Grundriss bis in   etwas schneller als erwartet. Mit unseren Gedanken waren wir schon beim Morgen, bei
           die Details so gerät, wie ein Schulneubau aus dem Jahr 1975, zum Beispiel meine eigene   den Fruchtfliegen der Bio-Klausur, der Sportprüfung am Barren, den noch fehlenden
           einstige Schule. Von den rechteckigen, antiseptisch weiß gestrichenen, durch Stahlrah-  Abi-Punkten. Eine kurze Pause entstand, ein ungeplantes Vakuum im Dauerlauf der
           men-Fensterbänder belichteten Klassenräumen bis zu den hüfthohen Betonwangen der   Schulstunden. „Maybe we could listen to all the songs until the end of the complete LP?“
           Treppenhäuser, von den mittig mit Neonkästen (heute LED) beleuchteten Fluren bis zu   Eine kluge Schülerin hatte das Vakuum erkannt, zielsicher die Initiative ergriffen. „Oh,
           den Klassentüren, damals mit Laminatbeschichtung  in Feuermelder-Rot, heute in der  yes, certainly…“, unser Lehrer klang erleichtert, auch etwas abwesend. Er schob den
           Rütli-Schule in Ultramarin-Blau. Und dass es vielleicht kein Zufall ist, dass dann nur ein   Tonarm per Hand über das letzte Drittel der Platte, drückte den Startknopf und sagte
           Gefühl im Umgang der Schüler mit ihren Schulneubauten im „Stil“ der DIN- und EU-norm-  noch, wir sollten besonders auf den letzten Ton des Liedes achten. Die Nadel fuhr herun-
           gerechten Sachlichkeit sichtbar wird: Das der Gewalt. Das Essay geriet flott, aber schrill.   ter, berührte sanft das Vinyl: „I read the news today, oh boy, about a lucky man, who
           Wie der Redetext eines hysterischen Missionars, eines prätentiös-populistischen Provinz-  made the grade…“ Wir hörten zu, hörten über die Ampel an der Kreuzung, den Unfall, die
           politikers oder, noch schlimmer, eines frustrierten, verbitterten Oberlehrers. Ich verwarf.   4000 Löcher in Blackburn Lancashire, wir hörten auf den letzten Ton, diesen einen Kla-
           „Penny Lane is in my ears and in my eyes, there beneath the blue suburban skies…“ Es   viertastenschlag, endlos lang, wir hörten „In Penny Lane there is a barber showing pho-
           war ein Schultag wie jeder andere, bis dahin. Der Himmel grau, der Schulhof regennass,   tographs…“ Wir hörten von dem Feuerwehrmann, der Angst vor dem Regen hat, von der
           das Neonlicht überhell. Die Stunden tropften dahin, lustlos und ein-         Krankenschwester, die auf einem Kreisverkehr Blumen verkauft,
           geübt, wie die sich unaufhörlich wiederholende Probe eines von               und alles verbreitete sich – die Musik, oft treibend, auch schwer-
           Publikum wie den Akteuren ungeliebten, aber von höherer Stelle               mütig, die Bilder, fremd und übergroß – wie ein warmer Luftstrom
           geforderten Theaterstücks. Nach Doppelstunde Latein und Doppel-              hinein in unser ewig gleiches, fensterbebändertes, rechteckig-sach-
           stunde Mathe zuletzt noch: Doppelstunde Ergänzungskurs Englisch.             liches Nordlicht-Klassenzimmer. Wir hörten zu, und dann überkam
           Wir, die Schüler, warteten, hockten brav auf unseren Flötotto-Schul-         uns etwas, das tatsächlich bis dahin ein Fremdwort in unserem
           stühlen, wippten gegen die Bugholzlehnen hin und her (aber nicht             Klassenraum-Rechteck  war: Sehnsucht, Schmerz, Liebe – mit
           mehr so, dass sie absichtlich brachen, wie noch in den jugendliche-          einem Wort: Gefühl. Und wir sahen, wie unser Englischlehrer
           ren Schuljahren zuvor), redeten leise, bemüht lässig, das Abitur             plötzlich zum Fensterband ging, sich von der Klasse wegdrehte und
           nahte, man tat erwachsen. Wir lauschten der Kadenz des Pausen- Foto: Benjamin Reding  hinausschaute, hinaus auf die „suburban skies”. Und die Aufmerk-
           gongs, kramten die Kladden hervor, schalteten routiniert den                 sameren unter uns sahen, dass sich unser Sakko-und-Pullun-
           Gesichtsausdruck auf Fleiß, Interesse, Aufmerksamkeit. Der Eng-              der-Lehrer  veränderte, dass ein Lächeln, ein unergründliches
           lisch-Lehrer kam, verspätet. Er trug etwas Seltsames unter dem Arm, eine kunstlederbezo-  Lächeln in ihm aufstieg. „Let me take you down, ’cause i’m going to strawberry fields.
           gene, schwarze Kiste. Er sagte: „Today we will listen to some songs…“ Er klappte die Kiste   Nothing is real…“. Das letzte Lied. „Living is easy with eyes closed, misunderstanding  all
           auf und zog vorsichtig etwas Quadratisches, bunt Bedrucktes aus seiner Aktentasche her-  you see… strawberry fields forever…“ Der Klangteppich am Schluss verbreitete sich hinter
           vor: Eine Schallplattenhülle. „… Beatles songs!“ Wir konnten ein Stöhnen nur mühsam   Tafel, Tür und Lehrerpult, unter dem Filzteppich und über den Neonkästen, in unseren
           unterdrücken. Beatles? Wir hörten Madonna, Prince, Beastie Boys, die avantgardistische-  Kladden und vor dem Stahlrahmenfester. „Strawberry fields forever…“ Danach Stille.
           ren Schüler Public Enemy, Red Hot Chili Peppers, New Order. Beatles, das war so out,   Nicht einmal ein Räuspern, Husten, Rascheln. Große, umfassende Stille. Schweigend ging
           outer geht’s nicht. Wir kannten die Songs kaum, wenn überhaupt, war es etwas für die   der Lehrer zurück zum Pult. Klappte den Schulplattenspieler zu, schob die LP sorgsam
           Eltern. „We will listen to one track at a time and will discuss it afterwards.“ Unser Eng-  zurück in die Hülle. Wir schauten ihm zu. Sein Lächeln war noch da, wirkte entrückt, weit
           lisch-Lehrer verteilte die fotokopierten Liedtexte. Wir machten uns zu ihm nicht viele   entfernt, an anderen Orten, in anderen Zeiten, bei anderen Leben, lange vor Klassenräu-
           Gedanken. Ein Mitfünfziger in Sakko und Pullunder, stets frisch gewaschen, gut gekämmt,   men, Schulstunden und uns. Die Stille bedrängte, machte verlegen. Wieder spürte eine
           akkurat frisiert. Er war „harmlos“, also sachlich und in der Benotung fair. Privates wussten   kluge Schülerin, dass es Zeit sei zu handeln. „Und was sind die Hausaufgaben?“ Sie sagte
           wir nicht von ihm. Behutsam zog er die Platte aus der Hülle, legte sie auf den uns leicht   es betont locker in die fremde Stille, in der das schwere Atmen der Mitschüler so deutlich
           lächerlich vorkommenden Schul-Mono-Plattenspieler und drückte dramatisch – sicher war  hörbar wurde. Der Lehrer schaute kurz auf, kein Blick auf jemanden, ein Blick ins Leere.
           er stolz, hier „modernere“ Lehrmethoden anzuwenden – an dem Kasten einen Knopf.   „Nein, heute keine Hausaufgaben.“ Er sagte es freundlich, mehr zu sich selbst. Und dann,
           „Klack“, geisterhaft schob sich der Tonarm auf die Platte, dann ein „Paff!“ und die Nadel   während er den Schallplattenspieler unter seinen Arm klemmte, weiter nachdenklich
           senkte sich in die erste Vinylrille. Wir lauschten: ein Knistern, ein Rauschen, dann – über-  lächelnd, plötzlich zu uns: „Es gibt andere Dinge… als Hausaufgaben.“ Schweigend ver-
           raschend laut – die warmen Klänge einer akustischen Gitarre, dann eine Sitar, dann   ließ er das Klassenzimmer. Noch fünf ratlose Minuten vergingen, dann schickte uns der
           Gesang: „I once had a girl, or should I say, she once had me? She showed me her room,   Schulgong zurück ins Reale, mit Fensterband und roten Türen.

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