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REDINGS ESSAY
IM KINO
Ein Essay von Benjamin Reding
J ürgen Prochnow am Rhein, auf einer Autofähre bei Köln. Friedliche Landschaft, Rent- Odeon winzig, muffig, überwarm, in einer Bricklane, einer typisch-britischen Arbeiter-
häuser-Nebenstraße. Kino-Kassenhäuschen mit Gardinchen und rundlicher Dame dahin-
ner, Ausflügler, Morgennebel, Postkartenidylle. Nicht ganz: Der jung-harmlos dreinblik-
kende Prochnow wird observiert, gefilmt, sein Autokennzeichen notiert. Die Rentner: ter. Sie verkaufte die Tickets in deftigem Cockney-English. Sechs zahlende Besucher. Ich
BND-Beamte, die Ausflügler: Polizisten, Prochnow: Ein linksradikaler Terrorist auf der wähnte Jack the Ripper unter den Gästen. Das „State Cinema“ in Sydney, Kinoarchitektur
Flucht. Das sind die ersten Filmminuten aus „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. wie ein Filmset, übergroß, marmor-monumental, gestalterisch, vorsichtig formuliert, im
Regie: Margarethe von Trotta und Volker Schlöndorff, nach dem gleichnamigen Roman „Ben-Hur-Look“oder „maurischem Historismus“ oder „Art-Déco-Rokoko“ gehalten. Hans
von Heinrich Böll. Der 1975 gedrehte Spielfilm läuft in der Reihe „Mein Film“ in einer Ma- Poelzigs „Babylon-Kino“ in Berlin, während einer Testvorführung mit dem verantwortli-
tinée am Kurfürstendamm. Die Filmakademie lädt zur Veranstaltung. In „Mein Film“ zei- chen WDR-Redakteur. Er besuchte sie gemeinsam mit seiner Ehefrau. Im sachlichen Vor-
gen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihren Lieblingsfilm. Wie Anne Will, Angela raum ein kurzes, ebenso sachliches Gespräch. Und jetzt erst im Licht sah ich, seine Frau
Merkel, Paul Breitner, Judith Holofernes, Sir David Chipperfield, Jean Paul Gaultier. Heute hatte bei unserem Film geweint. Kino, das war immer das modernste Haus am Platze,
die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Claudia Roth. Das Kino, ein plüschiges gewollte Symbiose aus Zeitgeist der tagesaktuellen Filme und Zeitgeist der jeweils tages-
Ding aus den 1950er-Jahren, ist gut besucht. Geladene Gäste. Darunter auch, soweit aktuellen Architektur. In den 1920-ern: Nosferatu, Caligari, Metropolis, also Zacken und
durch die Akademie erreichbar, die Film-Protagonisten von damals: Angela Winkler, die Spitzen, „expressionistischer“ Bauschmuck, Glühlampen-Pyramiden; in den 1930-ern:
zu Filmbeginn zart, zum Ende hin hart die entehrte Katharina Blum spielt; Jürgen Proch- Neue Sachlichkeit à la „M. Eine Stadt sucht einen Mörder“, also strenge Kuben, Fenster-
now, ihre Film-Karnevalsbekanntschaft, still und nachdenklich gibt er den Terroristen, bänder, Neonlinien, die scharfen Kanten betonend, und in den 1950-ern: Revuefilm, ge-
bewusst un-„terroristisch“; Regisseur Volker Schlöndorff, unverändert energiegeladen, schwungene Linien, Bonbon-bunte Neonkaskaden, glänzende Materialen, körperlich,
polyglott, höflich-professionell, und natürlich Staatsministerin Claudia Roth, fröhlich, weiblich, fast erotisierend. Dann kam das Fernsehen und die Kinokrise und die ökono-
sogar etwas nervös vor all der realen, leicht betagten Film- misierte Multiplex-Kiste. Kinos, die weder zum Hingucken
prominenz. Schauspielerin Alexandra Maria Lara, die ge- noch zum Wundern noch gar zum Staunen animieren. Viel-
fühlt Jüngste auf der Bühne, führt durchs Programm. „Gibt’s leicht auch ein Grund für die leeren Kinosäle von heute.
hier Bier?“ Theo schaut sich unruhig um, kennt und erkennt „Nein, er war nicht zudringlich. Er war zärtlich.“ Auf der
hier niemanden. „Ja, im Vorraum, an der Bar“. „Kann ich’s „Mein Film“-Leinwand: Die große Verhörszene. Eine bullige
mit rein nehmen?“ „Ja.“ Er nickt erleichtert, geht los. Männerriege von Kriminalbeamten setzt Katharina unter
Manchmal mache ich das gerne, jemanden mitnehmen zu Druck, formuliert ihre Aussagen aggressiv vor. Sie besteht
etwas, was nicht passt oder wovon alle denken, dass es dennoch auf dem Wort: „Zärtlich. Wenn da zudringlich
nicht passt. Wie heute Theo. Der arbeitet als Maurer, geht steht, unterschreibe ich nicht!“ Ich höre kein Glucksen der
auf Deep-House-Partys und ist, obwohl er so einen alter- Foto: Phöbus-Palast, München, Architekt (Umbau) Ludwig Ruff, entworfen 1925 Bierflasche mehr, kein leises Tippen auf dem Handy. Ich
tümlichen Namen trägt, 24 Jahre jung. Ab und an, nach der drehe mich um: Theo starrt auf die Leinwand, hochkonzen-
Schicht, nach durchtanzten Nächten, kommt er bei mir vor- triert. Jetzt kehrt Katharina Blum in ihre vom SEK-Kom-
bei und berichtet: „Morgens auf´m Weg zur Arbeit, auf der mando verwüstete Wohnung zurück, ekelt sich vor dem An-
S-Bahnstation hab’ ich plötzlich geweint“, erzählte er ge- Fotografie 1932, Sammlung Reding blick, wirft die letzten noch irgendwie „geraden“ Möbel zor-
stern, erstaunt über sich selbst. „Ich freu’ mich riesig und nig von sich. Dann kommt der Reporter von der „Zeitung“.
denk’ gleichzeitig, die Welt geht unter.“ Seine Freundin ist Er hat Fragen, aber dafür ist er nicht zu ihr gekommen: Er
schwanger, das weiß er seit ein paar Tagen, ihr und sein er- wird zudringlich. Katharina holt sich ihre verlorene Ehre zu-
stes Kind. Auf einer Party hat Theo sie kennengelernt, in Köln, als er da auf Montage war. rück. Sie erschießt ihn. Es wird wieder hell im Saal. Einen Moment bleibt es still, dann
„Jetzt ist sie in Köln, bei ihren Eltern, sucht eine Wohnung.“ Und dann, bedrückt, unsi- Applaus. Intensiv, echt. Nachher im Vorraum lehnt Eva Mattes mit einem Kaffee an der
cher: „Ich komm’ dann nach ... vielleicht.“ Im Film, nach den turbulenten Karnevalssze- Bar, spricht mit Claudia Roth, lächelt danach kommunikativ-einladend zu mir herüber.
nen, ein erster leiser Moment. Katharina noch glücklich und unbeschwert vor der Enteh- „Dieser Satz, nicht zudringlich, zärtlich, der ist mir immer präsent geblieben, lange
rung durch Polizei und den Überschriften der „Zeitung“, umarmt den geliebten Unbe- schon, seit einer TV-Ausstrahlung des Films, vor vielen Jahren.“ Eva Mattes nickt. „Filme,
kannten. Maurer Theo kehrt im Leinwandlicht zu seinem Platz zurück, die Bierflasche in denen ein echtes Anliegen, ein tiefes Bedürfnis steckt, aus denen bleibt etwas hängen,
klackert. „Krratsch!“ Theo öffnet den Kronkorken mit seinem Feuerzeug. Zwei, drei Ma- ein Blick, ein Geste, ein Satz. Manchmal begreift man erst viel später, warum.“ Theo steht
tinée-Gäste drehen sich zu uns um, ah, ich erkenne Eva Mattes, nach einer Vorführung abseits, starrt auf sein Handy, tippt eine Nachricht. Ich stelle ihm doch die Frage, die ich
meines Erstlingsfilms haben wir einmal länger miteinander geredet. Jetzt lächelt sie mir, mir verkneifen wollte: „Hey, hat´s dir gefallen?“ Und betrachte ihn erwartungsvoll, fast
uns, beruhigend zu. Ich entspanne, Theo liest Nachrichten auf seinem Handy, ich be- wie ein Wissenschaftler das Versuchsobjekt in einem komplexen Experiment. Theo zö-
trachte den Saal. Ein Kino, wie man sich ein Kino vorstellt: ein bisschen vergangen, ein gert. „Klar... man konnte was trinken beim Gucken.“ Er spürt mein Unbehagen, meine
bisschen Tütenlampen-Glimmer, Goldleisten-Glitzer, Wirtschaftswunder-Stuck. Die Bau- Enttäuschung. Dann plötzlich, mit echter Freude: „Und dass sie ihn erschossen hat!“
gattung Kino kannte ich kaum. Ich bin kein Cinéast, wie die anderen hier im Raum, Re- „Ja...? Warum?“ „Na, der hat sich unmöglich verhalten zu ihr!“ Vor dem Kino stehen sie
präsentanten einer Zeit, als Kino, das leuchtende Rechteck an der Wand, die einzige Öff- noch, reden, rauchen, warten aufs Taxi: Boot-„Kaleu“-Prochnow, Tatort-Kommissarin
nung war: in eine andere Welt, andere Gedanken, auch die unerlaubten, jenseits von Kir- Mattes, „Untergang“-Star Lara, Oscar-Preisträger Schlöndorff, im Nieselregen, unerkannt.
che, Eltern und heimischem Wohnzimmer. Erst durch die eigenen Filme, die Presse- und Da winkt von der anderen Straßenseite jemand herüber, ruft: „Hab’ deine Nachrichten
Festivalvorführungen lernte ich Kinos kennen: Das „Majestic“ in Leeds, ein echtes Nickel- bekommen! Ja, mach’ ich!“ Ein Arbeitskollege von Theo, der ihn jetzt nach Köln fährt.
050 • AIT 5.2023