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Thomas Steimle                                               Christine Steimle


                                     1974 geboren in NL-Renkum 1994–2000 Studium TU Stuttgart 2001 Chicago  1975 geboren in Stuttgart 1994–2000 Studium TU Stuttgart  1996-1999 Mit-
                                     und Südamerika 2001–2009 Mitarbeit wulf architekten, Stuttgart seit 2009  arbeit Petry+Withfoth, Stuttgart 2000–2014 wulf architekten, Stuttgart seit
                                     eigenes Architekturbüro und Lehrauftrag HfT 2013 Berufung in BDA  2007 Lehrauftrag TU Stuttgart seit 2014 Steimle Architekten,        Stuttgart






































                Das Erdgeschoss fungiert als heller Mehrzweckraum. • The ground floor is a bright multipurpose room.   Aufzug oder Treppe bringen die Besucher ins Obergeschoss. • A lift or stairs take the visitors to the upper level.


                von • by Christine und Thomas Steimle
                D   em baulichen Erbe mit Rücksicht und Respekt zu begegnen, dabei den Charak-  wurde in Dämmbeton mit tiefen, großzügig gesetzten Laibungen ausgeführt. Durch
                                                                              diese neuen Öffnungen gelangt nicht nur deutlich mehr Tageslicht in den Innenraum,
                    ter des alten Stadels im Zentrum von Kressbronn zu erhalten und ihn mit mög-
                lichst wenigen, wohldurchdachten Eingriffen in ein modernes, offenes Haus zu trans-  vielmehr kann das gesamte Interieur vollkommen neu erlebt werden – Innen und
                formieren, waren die Leitgedanken für diesen Entwurf. Der Umbau des früher land-  Außen öffnen sich im Erdgeschoss über die großen Verglasungen zueinander. Der
                wirtschaftlich genutzten Stadels sollte den Charakter des Hauses bewahren, das weit  Kern schält sich aus dem Betonsockel heraus, verbindet im Innenraum die zwei obe-
                auskragende, schützende Dach erhalten und auch die traditionelle Gliederung in ein  ren Geschosse und bewirkt durch seine offene Galerie ein spürbar anderes Raumer-
                massives Erdgeschoss und ein darüberliegendes Tennengeschoss übernehmen. Über  lebnis. Dennoch bleibt das vertraute, weit über die Fassade hinauskragende Sattel-
                dem neuen Sockel ersetzt nun eine filigrane Holzkonstruktion die alte Fassade, rea-  dach mit seinem historischen Holzdachstuhl weiterhin präsent im Raum – und kann
                giert sensibel auf den Bestand und verändert diesen behutsam. Ausgehend von der  jetzt von vielen Perspektiven aus wahrgenommen werden. Mit einem nach oben of-
                baugeschichtlichen Bedeutung des Stadels und der emotionalen Bindung der Men-  fenen Foyer empfängt das Haus seine Besucher und unterstützt die Kommunikation
                schen, wurde das Haus mit wenigen architektonischen Mitteln in der heutigen Zeit  und Begegnung. Als teilbarer Mehrzweckraum, Ausstellungsfläche und 24-Stunden-
                verortet, ohne seine Geschichte zu verdrängen. Durch die Aufrechterhaltung der vor-  Bibliothek kann das Erdgeschoss vielseitig bespielt werden. In der darüber liegenden
                handenen städtebaulichen Struktur, ohne äußeren Anbau und ohne Veränderung  Bücherei mit der Medien- und Zeitschriftengalerie und den Leseplätzen sind überra-
                des prägnanten, weit auskragenden Satteldaches wurde die erhaltenswerte histori-  schend offene Blicke durch das gesamte Gebäude möglich. Gerade hier treten das
                sche Bausubstanz gestärkt.                                    Alte und das Neue in einen spannungsreichen Dialog. Nicht nur von außen, sondern
                                                                              auch von innen wird die Balance aus Geschichte und Gegenwart zur besonderen
                Introvertierter Speicher wird zum offenen Haus                Qualität des Hauses.

                An seinem städtebaulich prominenten Standort, in räumlicher Nähe zum Rathaus  Alte Fassade subtil transformiert
                und zur Festhalle, ist durch die neue öffentliche Nutzung des Stadels als Bücherei
                und Bürgertreff eine wichtige Wegeverbindung entstanden, die nun drei Solitäre mit-  Um den innenräumlichen Charakter des schützenden Daches zu erhalten, wurde
                einander in Beziehung setzt. Ein einladender Vorplatz und eine breite Terrasse im  der alte Dachstuhl sorgsam restauriert und – wo erforderlich – durch neue Holzteile
                Garten stärken den öffentlichen Charakter des Stadels und laden zum Verweilen ein.  ersetzt. Im Tennengeschoss ist zunächst der historische Stadel mit seiner ortstypi-
                Der historische, eher introvertiert wirkende Speicher ist zu einem offenen Haus ge-  schen Stülpschalung die wichtige Referenz. Für das gewünschte diffuse Licht in der
                worden, das das vertraute Bild mit dem massiven Sockel und großen offenen Holz-  dortigen Bücherei wurde jedoch die alte Fassade subtil transformiert und die Holz-
                dachstuhl zwar konserviert, gleichzeitig aber durch die verwendeten Materialien und  schalung in Vertikalachse unterschiedlich gedreht. So entstanden schlanke Holzla-
                die großen Öffnungen im Erdgeschoss eine eindeutig moderne Sprache spricht. Dazu  mellen, die durch ihre Drehung das gewünschte Tageslicht filtern und nach innen
                wurde der Stadel mit einfachen, präzise gesetzten Eingriffen umgestaltet: Sein stei-  dringen lassen – und dem Haus mit ihrer eleganten Struktur ein erstaunlich moder-
                nerner, homogen ausgeführter Sockel bewahrt den Eindruck des Massiven und  nes Äußeres verleihen.

                                                                                                                               AIT 5.2019  •  135
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