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REDINGS ESSAY
                                        DIE VERLIEBTE




                                                        WOLKE





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            D   er Bau ist unübersehbar. An einer Straßeneinmündung gelegen, spitzwinkelig, je nach  als zische, als verbrenne es auf einer zu heißen Herdplatte. Jetzt stand er auf, umrundete, nach-
                Empfinden, wie ein Tortenstück oder ein Schlachtschiff – aus Backstein. Mit einer breiten
                                                                          denklich, mir schien, absichtsvoll langsam den Schreibtisch. Auf dem langen Weg durch die
            Glasfront und links und recht davon, haushoch, Ankündigungsplakate: „Dantons Tod“, „Was  sanft geschwungenen, schier endlosen Gänge des Schauspielhauses hatte ich versucht, mir sein
            ihr wollt“, „Timon von Athen“. Jeden Abend auf dem Weg zurück in meine Erdgeschoss-Ein-  Büro vorzustellen. Die Chefzimmer der Künstler haben es schwer, ein feiner Grat zwischen
            zimmerbehausung, wo eine verwilderte Katze in Hof auf mich und mein Abendessen wartete,  Machtdemonstration und kunstsinniger Bescheidenheit, auch einer Nähe zum einfachen, „pro-
            fuhr ich daran vorbei. Bis dahin oft schläfrig – Tagesschicht in einer Bar, ein Ferienjob – dort  letarischen“ Publikum ihrer Häuser muss gefunden werden, was dann anspruchsvoll asketisch
            aber erwachte ich, jedes Mal, denn abends leuchtete es. Das Wort „festlich“ ist hier erlaubt.  oder wie das Vorstandszimmer in einer Provinzsparkasse geraten kann. In Bochum war es das
            Es leuchtete festlich, das „Schauspielhaus Bochum“. Was mochte darinnen vor sich gehen,  Vorstandszimmer einer Provinzsparkasse: Aktenschränke, Holzimitat, Filzteppich. Der Intendant
            dass es nach außen so dramatisch, so prächtig strahlte? Das dachte ich und dachte es noch,  trat jetzt ans Fenster, drehte mir den Rücken zu. „Sie nehmen sich ja gleich viel vor…“ „Ja, das
            als ich die Katze im Hof begrüßte und ihr den täglichen Wurstrest zu essen gab. „Bitte, wo ist  ist ja toll, dass Sie hier jungen Menschen große Chancen geben!“ Er lächelte kurz, geschmei-
            hier das Chef …das Regiebüro?“ „Regiebüro? Ach, Sie wollen zu den Pionieren?“ „Nein, nicht  chelt, zensierte sich aber sofort. „Ja, aber man muss auch damit umgehen können, Herr Rettig.“
            zum Bühnenbau, lieber zu einer Probe, wo richtig Theater gemacht…“ „Sag ich doch, Pioniere  Sollte ich ihn korrigieren? Ach, das kannte ich: Benedikt statt Benjamin, Rettig oder Redlich oder
            in Ingolstadt! Das Stück. Sind Sie angemeldet?“ Was wird geschehen, wenn ich Nein sage?  Redding statt Reding, nein, jetzt war nicht der Moment. Er betrachtete, scheinbar beiläufig, das
            „Ja,  angemeldet.“  Der  Pförtner  am  Bühneneingang  des                         Zifferblatt seiner Armbanduhr. „Wenn es in den Kammerspielen
            Schauspielhauses, ein rundlicher, alterslos-alter, bebrillter                     wäre, also im Foyer der Kammerspiele und nur Proben, ohne
            Herr, sah mich erwartungsvoll an. „Ihr Name?“ „Reding, Ben-                       Bühnenarbeiter. Und nur Darsteller, die im Haus keine Stückver-
            jamin.“ Er suchte sich durch einen dicken Packen Zettel, las                      träge haben. Dann könnten Sie es mal… versuchen.“ Er dreht
            etwas, murmelte „Ra…Re… Rettig. Ah hier“, und nickte. Plötz-                      sich vom Fenster um. „Und ohne Etat versteht sich. Und ohne
            lich surrte der Öffner der Glastür. Ich stolperte hinein, so                      Premiere. Entschieden wird nach den Proben.“ Das Stück hatte
            schnell es ging, nahm den nächstbesten Gang. „Nein, in die                        ich in Istanbul kennengelernt, ein Freund gab mir „Die verliebte
            andere Richtung, zu den Kammerspielen.“ Ich lächelte. „Na                         Wolke“ zu lesen: Die schöne Ayse lebt mit ihren Freunden, der
            klar! Zu den Kammerspielen!“ Und stapfte energisch los. „Du                       Taube und dem Kaninchen, in einem wunderbaren Garten. Der
            bist spät dran!“ Der Zuschauerraum lag im Dunklen, nur auf                        mächtige Kara Seyfi aber, dem schon alles Land gehört, will
            einem Tischchen vor der siebten Stuhlreihe brannte Licht.                         auch ihren Garten besitzen. Ayse widersetzt sich. Da nimmt der
            „Und das am ersten Probentag, stzzz, stzzz. Aber immerhin,                        Mächtige Rache und lässt Sturm und Dürre wüten, um den Gar-
            manche kommen gar nicht.“ Ein junger Mann, der ein biss-                          ten zu zerstören. Nur eine Wolke ist Zeuge ihres Dramas und, na-
            chen wie Bert Brecht aussah oder so aussehen wollte, erhob                        türlich, verliebt sie sich in Ayse und regnet sich am Ende ganz
            sich hinter dem Tischchen. „Ich bin der Regisseur, das (er  Foto: Benjamin Reding  und gar aus, opfert sich, um den Garten und Ayse zu retten…Das
            deutete auf die Gestalten neben ihm im Dämmerlicht) ist der                       inszenieren! Wow, toll, aber… wo fängt man an? Mit den Lam-
            Dramaturg, der Inspizient, der Chef der Tontechnik, Chef der                      pen? Dem Text? Der Bühne? Ja, dachte ich, mit der Bühne! Das
            Lichttechnik, und dort“, er deutete mit großer Geste auf den                      Stück ist für Kinder, Kinder lieben Tiere und Blumen. Also wur-
            leeren Klappsitz am Ende der Reihe, „residiert ab heute der Regiehospitant.“ Ich blickte ge-  den Hase und Taube aus Stoff gebastelt und echte Blumen eilig am Bahnhof gekauft. Und Kinder
            spannt auf die Personen im Halbdunkel. „Also du!“ „Oh…“, sagt ich. „Und der…“ er nahm de-  lieben Musik! Also bat ich einen Saz-Spieler in den Umbaupausen, Musik erklingen zu lassen:
            monstrativ gelangweilt eine fotokopierte Liste in die Hand, „der Benedikt, der kann sich…“,  „Üsküdar´a gideriken“, das türkische Volkslied. Und dann kam das vielleicht Schwerste: Wie
            „Benjamin“, korrigierte ich. „Ja, der Benedikt, der kann sich gleich mal nützlich machen und  sollte die Wolke regnen? Wo es doch im Foyer keinen Tropfen echtes Waser geben durfte. Ich
            mir einen starken Kaffee aus der Kantine holen“. Und rief mir noch hinterher: „Und ein Schin-  probierte es mit Glitzerstaub, Lametta, Konfetti, aber jedermann sah sofort: Das ist kein Wasser.
            kenbrot. Mit Gurke und Ei!“ Die nächsten Tage sah ich meine Streunerkatze kaum, die Proben  Da zerriss der Darstellerin der Ayse in einer Probe ihr Halsschmuck, eine Glasperlenkette, die
            dauerten bis tief in die Nacht, mit Zittern und Beben, kreativen Blockaden und defekten  Kugeln spritzen in alle Richtung. Wie Wasser! Dann kam die letzte, schon öffentliche Probe: Die
            Scheinwerfern, Wutausbrüchen und Texthängern. Nach vielen 100 Litern transportieren Kaf-  Kinder juchzten und johlten vor Freude, und bei der regnenden Wolke schrien sie vor Begeiste-
            fees, vielen 100 Schinkenbroten probte die Regie die komplexe Schlussszene. Es funktionierte  rung auf.  Da spürte ich, was das ist: „Regie führen“. Mit den eigenen Ideen Kopf und Herz der
            nichts. Die Einstätze, die Lichtwechsel und das Schauspielern. Die junge Darstellerin der  anderen zu bewegen. Eine Chance, ein Privileg, ein Glück. „Man hat mir von Ihrer letzten, öf-
            „Alma“ verhedderte sich wieder und wieder im Text: „Ihr werdet mich alle kennenlernen. Alle,  fentlichen Probe berichtet.“ Die Stimme des Intendanten klang streng. „Es gab Kritik. Auch von
            alle werdet ihr mich kennenlernen!“ Sie vertauschte jedes „alle“ mit jedem „ihr“ und jedes  Kollegen. Man muss schon was können hier am Haus, einen Standard erreichen, einen hohen
            „Kennenlernen“ mit jedem „werdet“. Da schaute sie der Regisseur durchdringend an, rief  Standard, lieber Herr Rettig!“ „Nein.“ „Nein?“ „Ich heiße Reding, nicht Rettig.“ Jetzt stutzte der
            dann, laut, mit zitternder Stimme: „Du musst es hier haben, hier!“ Seine Hände presste er  Intendant, seine Stimme klang kratzig. „Ihr Vater ist nicht der bekannte Theaterkritiker?“ „Nein.“
            dabei melodramatisch auf seine Brust. „Wenn du’s hier nicht hast, dann nützt alles nichts!“  „Sie waren auch nie vorher an der Burg, als Hospitant bei Peymann?“ „Nein. Ich habe in einer
            Die Darstellerin brach in Tränen aus, und ich dachte plötzlich so bei mir: Mann, das hätte ich  Bar gearbeitet.“ Jetzt betrachtete mich der Intendant prüfend, fast ein bisschen erstaunt, wie die
            besser erklären können, klarer und einfacher, wie sie den Satz sprechen muss. Und das dachte  Kinder meinen Perlen-Regen. „Ach.“ Er atmete wieder schwer aus. „Wir nehmen Ihr Stück ins
            ich auf dem Weg nach Hause und dachte es auch noch beim Einschlafen. „Sie wollen also in-  Programm! Premiere ist Samstag. Toi! Toi! Toi!“ Abends kletterte die Wildkatze in meine Küche,
            szenieren…“ Der Intendant ließ das Wort wie Schmelzkäse im schmallippigen Mund zergehen,  zum ersten Mal. Ich legte ihr die ganze Salami hin, kraulte ihre Ohren und gab ihr einen Namen:
            „Ein Kinderstück… etwas Türkisches…von Nazim Hikmet.“ Jedes Wort, jedes „S“ und “Z“ klang  „Wolke“. Dann streichelte ich ihr struppiges, graues Fell. Meine Hand zitterte vor Erschöpfung.

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