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REDINGS ESSAY
„HIER WIRD ES
IHNEN GEFALLEN“
Ein Essay von Dominik Reding
D ie Papiere waren zerknittert, der Text verlaufen, die Stempel unleserlich. Sie wer- den Sie sicher verstehen.“ Der Fahrstuhl kam spät und ich sah noch, wie sie mein Ar-
den verärgert sein, schimpfen, ablehnen. Ich schwitzte und fror und schaute wie-
beitsmodell im Mülleimer entsorgten. – Noch zwei Tage. – Auch damit können ehema-
der auf die Uhr: 8.30 Uhr. Eine halbe Stunde noch. Mit dem zerrissenen Pass hatte er lige Schulkollegen etwas Gutes tun, dass sie einen bei sich pennen lassen, wenn man
angefangen, mein Countdown, zwei Monate zuvor. „Der ist ja abgelaufen!“ Der Beamte in einer fremden Stadt ein Praktikum absolviert. „Für umsonst“, wie mir mein alter
im Einwohnermeldeamt betrachtete den zerfledderten Ausweis wie verbotene Litera- Mitschüler versprach. Er war im Surf-Urlaub auf den Azoren und hatte eine große Alt-
tur, hielt ihn hoch, sodass ihn seine Kollegen hinter dem Ausgabetresen gut sehen bauwohnung in einer noblen Gegend. Wie er sich das bloß leisten konnte? Ich dachte
konnten, rief: „Seit über drei Jahren schon!“ und zerriss ihn. „Neuen beantragen! In mir nichts dabei. Dann, am Tag meines Arbeitsendes, stand dieser Mann im Flur. „Hast
vier Monaten können Sie ihn abholen.“ „Aber ich brauche den Pass doch jetzt, für mei- Du das Geld?“ Er schaute mich an. Nicht sehr freundlich. „Geld?“ Ich versuchte ein Lä-
nen Antrag, DAAD-Auslandsstipendium.“ „Dada was? Nee, da hätten sie halt eher cheln. „Du weißt!“ Er sprach mit Akzent, vielleicht Russisch. Ich wusste nicht. „Miete,
kom men müssen. Früher Vogel fängt den Wurm.“ „Dann klappt das nicht mehr mit Rückstand, vier Monate, zahl!“ Sein Handy klingelte, Unruhe kam auf. „Komme wie-
meinem Auslandssemester.“ Ich stöhnte. „Machen Sie halt was anderes: Urlaub an der der. In Stunde. Dann du zahlen und dann Abflug. Klar?“ „Klar.“ Er stampfte aus dem
Nordsee oder in Hollywood ´nen Film drehen.“ Der Beamte grinste. „Ja“, sagte ich. – Hausflur. Und ich, leise, sehr leise, zehn Minuten später hinterher. – Noch einen Tag. –
Von jetzt ab noch acht Wochen. – Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken, auf Das Gepäck stopfte ich in ein Schließfach am Bahnhof. Mein Bargeld reichte noch für
dem Hochhaus gegenüber leuchtete die Neonreklame „Der Spiegel“ und auf dem Dach einen Kaffee, das Konto war längst im Minus. Mit der S-Bahn wollte ich bis zur Stadt-
wehte die Hamburg-Flagge. Was für ein Aus- grenze und dort in einem Bankvorraum die
blick! Was für ein Büro! Die komplette Dach - Nacht verbringen. Nur jetzt nicht beim Schwarz-
etage eines alten Kontorhauses. Alle Innen- fahren erwischen lassen. „Die Fahrausweise
wände aus Glas, sogar das Klo, dort aber dis- bitte!“ Eine vielköpfige Roma-Familie hielt die
kret sandgestrahlt. Und, abgeteilt in einem ei- Kontrolleure auf, ich sprang bei der nächsten
genen Glaskubus, der Chef, stets mit Zigarillo, Station aus dem Waggon, fand einen EC-Raum,
schwarzem Sakko und Le-Corbusier-Bril le. Ein der wegen Umbau ge schlossen war, und schlief
aufstrebendes Büro, erste Erfolge, erste Maga- im Eingang da vor. – Noch zwölf Stunden. –
zin-Artikel, erster Ruhm. Sechs Wochen Prakti- Schön ist der Bau der Hamburger Kunsthoch-
kum bei einem internationalen Wettbewerb: schule. Rote Backsteinwände, efeuüberwuchert,
Opernhaus in Kopenhagen. Der Chef war zu mit hohen Dächern, kleinteiligen Fenstern und
be schäftigt, seine Sekretärin sah meine Bewer- einer haushohen, schweren eichernen Ein-
bungsmappe durch. Sie blätterte, ohne hin zu - gangstür. Als ich sie aufdrückte, spürte ich, wie
sehen. Dann seufzte sie. Für den Wettbewerb die Muskeln zitterten. – Noch eine Stunde. – Ich
käme ich leider nicht mehr infrage, das Team war viel zu früh, wartete in der Eingangshalle
stünde schon fest, aber es gäbe da noch ein Ar- mit ihren Jugendstil-Glasfenstern. Wo sind die
beitsmodell zu bauen, einen Bürobau für eine Papiere? Wieder ein Griff in die Jacke. Alles
wichtige Besprechung mit dem Bauherren. nass, zerknittert, die Texte zerlaufen, die Stem-
„Das wäre doch eine schöne Aufgabe“, sagte pel unleserlich. Sie werden verärgert sein,
sie und zeigte auf einen Haufen Pappe und Sty- schimpfen, ablehnen. Ich schwitzte und fror
rodur am hintersten Tisch im Büro. „Sie haben Foto: Benjamin Reding und schaute wieder auf die Uhr: 8:30 Uhr. Eine
großes Glück, dass Sie als Anfänger in unse- halbe Stunde noch. Hoffentlich fragen sie nicht
rem Büro arbeiten dürfen.“ – Noch fünf Wo- nach dem Pass. Die Treppe hoch, dann noch
chen und sechs Tage. – Der erste Arbeitstag dauerte von neun bis fünf, der zweite von eine Treppe, dann ein weiß gestrichener Gang. Ich stöhnte bei den Stufen, sah alles
neun bis sieben, der dritte von neun bis neun und alle weiteren von neun bis nachts. schon verschwommen und verschoben wie durch eine kaputte 3-D-Brille: VERWAL-
Für die anderen aber, das Wettbewerbsteam, gab es gar kein Ende mehr. Sie zeichne- TUNG. Das Wort war mit Metallbuchstaben an die Tür am Ende des Gangs genagelt.
ten durchgängig und wuschen sich in der Kloglaskiste. Drei Tage vor Abgabeschluss Ich klopfte. „Ja?“. Öffnete. Es roch nach Kaffee, 4711 und ein bisschen nach Zigaretten.
kollabierte eine Mitarbeiterin vor Erschöpfung. Sie fehlte am nächsten Tag. Die ande- Eine rundliche Frau in mittleren Jahren saß hinter einem hölzernen Tresen und sor-
ren arbeiteten weiter. Der Chef verließ nun ab und an seine gläserne Kommandokapsel tierte Akten. „Ja?“ „Guten Tag. Anmelden, ich möchte mich anmelden, für ein Gastse-
und interferierte mit dem gemeinen Volk. Er kam auch an meinem Tisch vorbei, blieb mester, Architektur.“ Sie blickte hoch. Ein bisschen wie Frau Holle sah sie aus, wie im
stehen, betrachtete das Arbeitsmodell, mein Werk der letzten fünf Wochen, schaute Kinderbuch. „Und ... für Film ... den Studiengang Film ... wenn das geht ... geht das?“
hoch und sagte: „Hm ...“ und dann: „Wollen Sie wirklich Architekt werden?“ Ohne die Sie sagte nichts. „Habe alles mit: Zeugnisse, Studienbuch, Praktikumsbescheinigung
Antwort abzuwarten, kehrte er in seinen Glaskubus zurück. – Noch zwei Wochen. – ...“ Der Schweiß lief mir in den Nacken. „ ... nur den Pass nicht, den hab’ ich verloren.“
„Sie brauchen nicht mehr zu kommen.“ Die Sekretärin fing mich vor dem Fahrstuhl ab. Mist, jetzt hatte ich mich verplappert. Der Puls wummerte, ich fror und schwitzte noch
Der Opernhaus-Wettbewerb war verloren und der Bauherr der Hauptverwaltung hatte mehr. Da sah sie mich plötzlich sehr genau an, prüfend lange. Ich weiß nicht, was sie
sich für ein anderes Büro entschieden; das Modell bekam er nicht mehr zu sehen. „Ein gesehen hat, aber dann raffte sie die Zettel energisch zusammen, lächelte wie Frau
Praktikumshonorar ist unter diesen Umständen natürlich nicht mehr möglich, das wer- Holle und sagte: „Hier wird es Ihnen gefallen!“, nickte und stempelte meine Papiere.
054 • AIT 4.2019