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WOHNEN • LIVING THEORIE • THEORY
III. Sterblichkeit
Die Patina ist ein weiteres Gestaltungsmerkmal der reduktiven Moderne. Sie erinnert uns an das unbe-
herrschbare Element des Todes, das wir in der Epoche der Moderne – sowohl in der Architektur als auch
in unserem Leben – zu beeinflussen versuchen. Wenn man aber sparsam und langlebig baut, muss man
sich proaktiv mit Pflege, Veränderung und Zerfall auseinandersetzen. Es gibt sowohl die böse als auch
noble Patina. Die zerstörerische Patina ist chemisch instabil und tritt auf, wenn etwas durch normale
Nutzung, Wasser oder Sonneneinstrahlung schneller zerfällt und sich abbaut. Diese Art von Subtraktion
sollten wir vermeiden, indem wir passende Materialien einsetzen, die der Nutzungsanforderung entspre-
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chen. Die noble Patina dagegen kann man als eine Addition verstehen: Materialien werden durch die
Nutzung, das Klima und die Kultur in den Räumen geprägt, was zusätzlich eine Bereicherung darstellt.
Die Wohnung zeigt dadurch das gelebte Leben und ist mit offenen Enden gebaut, statt eine Fertigstellung
Foto: Florian Nagler Architekten der wachsen darf und damit an Schönheit gewinnt. Gestalterisch geht es darum, der noblen Patina gute
oder Perfektion am ersten Tag anzustreben. Es ist naheliegend, eine Wohnung als einen Ort zu sehen,
Bedingungen mitzugeben. Glanzvolle Oberflächen, die beim ersten Kratzer gleich ruinös wirken, sind
kontraproduktiv. Oberflächen mit Materialstrukturen können potenziell besser das Licht, den Staub und
Weiterbauen: Verlängerung des kleinen Lieblingsküchentisches für eine größere Familie Schmutz des Lebens aufnehmen und beispielsweise eine dreidimensionale Schattenwirkung entfalten.
IV. Farbe
Mikala Holme Samsøe und Amandus Samsøe Sattler in der „neuen“ Echtholzküche von 2001 Die Verwendung der Farbe Weiß im 20. Jahrhundert steht symbolisch dafür, moderner, internationaler,
fortschrittlicher und hygienischer zu werden. Im Raum löst die Farbe die Abgrenzungen von Wand,
Decke und Boden auf. Wir fühlen uns grenzenlos im entmaterialisierten Raum. Das titanweiße Erschei-
nungsbild ist tief in unserer kollektiven Vorstellung verankert und positiv konnotiert. Warum hat die
Farbe Weiß die Moderne so stark geprägt? Titan wird seit dem Anfang des 20. Jahrhundert aus dem
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Mineral Ilmenit gewonnen und hat erhebliche Spuren in der Landschaft hinterlassen. Ilmenit ist günstig
und hat eine hohe Deckkraft, was die Massenproduktion überhaupt erst möglich machte. Titan gibt es
in allerlei alltäglichen Produkten des Lebens: Farbe, Lack, Kosmetik, synthetischen Textilien und Papier.
Lange dachten wir, es sei ungiftig. Seit nicht allzu langer Zeit ist es EU-weit in Lebensmitteln verboten
und deswegen auch nicht mehr in Zahnpasta zu finden. Titanweiß unterstützt die moderne Ästhetik,
aber damals wie heute auch sozial „giftige“ Vorstellungen von sauber/schmutzig, zivilisiert/primitiv.
Diese Vorstellungen materialisierten sich gewissermaßen in Alltagsoberflächen . Handwerkliche Tradi-
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tionen und die lebendige Praxis des Umbaus bieten dagegen einen Reichturm an schützenden und sin-
nesanregenden Oberflächenbehandlungen: Kalk, Leinöl und Leimfarbe – ohne Chemie und synthetisch
hergestellte Farbpigmente. Das Wissen über diese natürlichen Behandlungsweisen ist aktueller denn
je in der Innenarchitektur – und regt dazu an, unsere Vorstellungen von Schönheit in Bezug auf Farben
und Oberflächen infrage zu stellen. Dem eigenen Wohlbefinden zuliebe interessieren sich immer mehr
AuftraggeberInnen für den Einsatz und die Anwendung natürlicher Materialien im Wohnbereich.
V. Heterogenität
Bauen im Bestand und mit bestehenden Baumaterialien ist notwendig, wenn wir den Materialverbrauch
reduzieren möchten. Die zufällige Bricolage, die aus den vorhandenen Bauteilen und Materialien ent-
steht, scheint erst einmal eine Notlösung zu sein. Eine bedachte und kunstvolle Collage dagegen kann
zwar aus materieller Not entstanden sein, hat aber das Potenzial, die Türen für Kompositionen zu öff-
nen, die wir bisher nicht kennen. Wird dann alles eine Collage? Wir gewinnen nur die Herzen der
Menschen, wenn die Gestaltung der Reduktiven Moderne als ansprechend empfunden wird: Vertrautes
wird mit Neuem zusammengesetzt. Die Heterogenität zeigt sich auch, indem ein kohärenter Umgang mit
Foto: Leonie Balloni/Vola Stilepochen weniger wichtig wird. Wenn Tragwerk und Fassade aus anderen Bauten zu einem Gebäu-
de neu zusammengefügt werden und Einbauten aus allerlei Häusern stammen, können wir Epochen
unmittelbar nicht eindeutig einordnen. Nicht das Einhalten eines Stils, sondern das Zusammenspiel
von Einzelteilen ergibt die ganzheitliche Wirkung. Das entspricht einer phänomenologischen Betrach-
tungsweise, in der das Wesen des Wohnraums im Vordergrund steht. Eine Wohnung ist damit nicht ein
1 Katherine Richardson et al., “Earth beyond six of nine planetary boundaries,” Sci. Adv. 9 (37),
eadh2458 (2023). abgeschlossenes statisches Objekt, aber ein Ort, der Sinn macht in dem Moment des Erlebens. Die fünf
2 In Deutschland wird aktuell auf 47,5 qm pro im Durchschnitt gewohnt. Zahl aus 2023. https://www.umwelt- Gestaltungsmerkmale der Reduktiven Moderne sind identifiziert, es gibt jedoch eine Menge gesetzlicher
bundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/wohnflaeche#wohnflache-pro-kopf-gestiegen.
3 Welzer, Harald; Selber Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main 2013 und wirtschaftlicher, aber auch kultureller Barrieren, um eine andere, eine neue Ästhetik radikal umzu-
4 Chatteriee, Ajan; Vartanian,Oshin; Trends in Cognitive Science, 2014.
5 Ørskov, Willy. Aflæsning af objekter – og andre essays. Borgen, København 1966. Wie er vorgeht beim setzen. Die kulturellen Barrieren sind besonders in einer Umbruchzeit interessant, weil sie das Potenzial
skulpturellen Arbeiten.
6 Samsøe, Mikala Holme (Hrsg.) einfach. schön. weiterbauten. Wertschätzung und Ertüchtigung eines Schul– für schnelle, unkomplizierte Umsetzung in der Breite haben. Besonders in der Innenarchitektur und im
gebäudes aus der 1970er-Jahren. Technische Hochschule Augsburg 2025. Innenausbau können wir erheblich zur Reduktion unseres Ressourcenverbrauchs beitragen, indem wir
7 Algreen-Petersen, A: Patina. Arkitektonisk motiv og informant. Ph-d-afhandling. Det kongelige Danske
Kunstakademis Skoler for Arkitektur, Design og Konservering, 2019. die ästhetischen Vorstellungen von schön und hässlich und zeitgemäß nuancieren und sie auf reduktiven
8 Ingrid Halland, The Oslo School of Architecture and Design, University of Bergen. Vortrag anlässlich des
UIA-Kongresses, Kopenhagen 4. Juli 2023. Hauptvorkommen von Immenit befinden sich in Norwegen, Grundlagen aufbauen und forcieren. Der Bedarf an Reduktion in der Gesellschaft ist ein Geschenk für die
Nordamerika und Kongo. architektonische Qualität. Die Anwendung von bereits Vorhandenem hat eine vitalisierende Kraft für die
9 Halland, I. / Johnslien, M., „With-On“ White: Inconspicuous Modernity with and on Aesthetic Surfaces,
1910 – 1950. The Aggregate Architectural History Collaborative, 2023. Ästhetik und für das Verständnis unserer eigenen Rolle auf der Erde.
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