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REDINGS ESSAY

                          WENN DIE GONDELN




                                 BERTOIA TRAGEN






                                                            Ein Essay von Benjamin Reding



            D   ie Wohnung war winzig. Eigentlich nur ein Zimmer mit quadratischem Mini-Fenster,  Pizza auf dem Küchentisch, das alu-schwarze Fensterquadrat, der leere, nassgraue Him-
                einer Baumarkt-Deckenlampe, einer Badnische, Kochnische, beigefarbenem Ka-
                                                                          mel dahinter. Plötzlich weinte sie. Ganz leise. Verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
            chelboden und einem an die Wand gepinnten Fernseher. Es flimmerte Rai 2, „Notizie ag-  „Meine Freundin hat sich getrennt von mir, nach fünf Jahren, Beatriz aus Bilbao, du
            giornate“. Tom, mein Regiekollege aus Berlin, hatte es so anheimelnd beschrieben: „Mein  kennst sie?“ Ich nickte. Ja, ich hatte sie beide gemeinsam gesehen, einmal, auf der Ab-
            kleines, schnuckeliges Apartment. Solange ich in New York an der Columbia unterrichte,  schlussfeier eines Filmfestivals. Julia, meine einstige Studienkollegin und Avantgarde-Fil-
            kannst Du es für zwei Wochen haben, Dein neues Drehbuch schreiben oder so was... Ve-  memacherin, und Beatriz, ihre Kamerafrau, eng umschlungen tanzend, bis zuletzt, unter
            nedig inspiriert! Via Giosué Carducci, Venezia-Mestre.“ So setzte ich mich in den Zug und  der stoisch rotierenden Discokugel. „Wir haben uns richtig gezofft, sogar Porzellan zer-
            tauschte den Schnee in Berlin gegen den Regen in Venedig. Und las, während links und  deppert.“ Ich schaute sie ungläubig an. „Ja, ich habe eine Kaffeetasse an die Wand ge-
            rechts an den Zugfenstern die Alpen vorbei huschten, in Evelyn Waughs „Wiedersehen  worfen...“ Sie grinste, entschuldigend. „Auf Korfu setze ich mich an den Strand und werde
            mit Brideshead“: „When the doors of the palazzo in Venice opened, the piano nobile was  alles vergessen, sie, mich, alles... gute Idee, oder?“ Ich schaute sie an, überlegte, sah, dass
            in full sunshine, ablaze with frescoes of the school of Tintoretto. I was drowned in honey.  sie sah, dass ich überlegte und sah – gespielt beiläufig – zum Bildschirm: Wieder Brasilia,
            Stingless.“ War es ein Wunder, dass ich mehr erwartet hatte? Nach drei stillen Tagen im  wieder das Parlamentsgebäude, aufgebrachte Demonstranten, die die Riesenglasschei-
            Vorort Mestre, allein mit dem TV-Gerät und Rai 2 (aus einer Laune heraus hatte es Tom  ben der Eingangshalle... Nein?! Doch! Einschlagen! „Uh, Scheiße!“ Es entfuhr mir. „Da
            so eingerichtet, dass sich der Fernseher immer zusammen mit dem Deckenlicht einschal-  war ich mal.“ „Auf Korfu?“ „Nee, Brasilia.“ Ich sah im TV, wie die Sprinkleranlagen der
            tete – immer Rai 2, unabänderlich – und sich nur zusammen mit dem Deckenlicht wieder  Eingangshalle Oscar Niemeyers Architektur in eine Seenlandschaft verwandelten. Ich
            ausschalten ließ) und ohne eine einzige Seite Drehbuch, selbst die Idee war mir durch  konnte den Blick nicht abwenden: Jetzt warfen sie das Mobiliar aus den Fenstern: Nie-
            das einsame Gegrübel in den trüben Gewässern der Lagunenstadt verloren gegangen,  meyers futuristische Sessel, Bürostühle von Charles Eames, zuletzt auch ein Exemplar des
            stieg ich den Bus ins Zentrum. Venedig im Frühjahr, kein                         „Bertoia Chairs“, dieses filigrane Ding aus Draht und weißer
            „Taste of Honey“, mehr ein „Wenn die Gondeln Trauer tra-                         Lackfarbe. „Den hatte meine Tante!“ Julia stand noch neben
            gen“. Am Bahnhof stieg ich aus, ohne Ziel. Vielleicht zur Gug-                   mir, starrte, wie ich, gebannt auf den Screen. „Meine Tante
            genheim Collection oder Santa Maria della Salute oder Pa-                        war modern, wohnte im Bungalow, alles eckig und kantig
            lazzo Grassi? Zuletzt dann doch zu Fuß, doch auf die Piazza                      und vorm Schreibtisch dieser Stuhl. War das erste Ding, wo
            San Marco, die Realität gewordene Ferienpostkarte, oder                          ich mal gespürt habe, dass das mehr ist.... mehr als einfach
            eher – die täuschend echte 3D-Kopie des Platzes, der dort                        nur ein Stuhl oder Tisch. Bei uns zu Hause gab es nur Gel-
            einst Realität gewesen war. Markusdom, Dogenpalast, Mar-                         senkirchener Barock.“ „Wann merkt man, dass es mehr ist?“
            kussäule, Cafè Florian. Es war wie immer: voll, laut, lärmig,                    Ich fragte sie, aber meinte mich, meine Erinnerung. Und
            flatternde Tauben, gereckte Köpfe, gereckte Handys. Latte                         suchte und gab ihr und mir eine Antwort. „Es war ein Innen-
            Macchiato 12 Euro. Ich kämpfte mich quer durch das Men-                          raum. Innenräume sind eh viel stärker. Wie die Dome:
            schengewoge, herüber zu den vier römischen Cesaren, den                          Außen ist es hohe Kunst, aber innen, da wirkt es viel inten-
            Tetrarchen. Gehauen um das Jahr 300 aus ägyptischem Por-                         siver, das Raumerlebnis, da wird es...“ Ich suchte nach dem
            phyr, verschleppten sie die Kreuzfahrer 1204 aus Konstanti-  Foto: Benjamin Reding  Wort, fand es nicht, sagte „Architektur“. „Aber was ist Archi-
            nopel nach Venedig und stellten die steinernen Kaiser an                         tektur?“ Sie fragte es ganz ernsthaft, wie ein Schulkind im
            der Ecke des Domes auf, wo sie seither mit grimmigen Blick                       Kunstunterricht. Ich musste lächeln. „Hey, worüber reden
            sich und die Zeit bewachen. Immer wenn ich in Venedig bin, gehe ich zu ihnen, berühre  wir...? Sag, warum habt ihr euch getrennt?“ Sie wollte antworten, wandte sich um, zum
            ihre Sandalen, um mich meines Noch-Daseins und ihres geheimnisvollen Dauer-Daseins  nassen Fensterquadrat, überlegte. Und ich überlegte auch: Was ist Architektur? Wann
            zu vergewissern. „Nein!“ Erschrocken zog ich die zur Berührung ausgestreckte Hand zu-  spürt man, dass es mehr ist als vier Wände und ein Dach. Mehr vielleicht als die Vi-
            rück. „Nein, das kann nicht sein!“ Julia schaute mich an. Sie war mehr verblüfft als er-  truv’sche „Urhütte“? Mehr als Gropius und seine „soziale Frage“? Mehr als Le Corbusier
            freut. Ich nahm ihr die erste Frage ab: „Was machst Du hier?“ Sie schaute kurz auf die  und sein „Spiel geometrischer Baukörper im Licht“? Mehr sogar als das Mies’sche „Less
            nassen Stein-Kaiser, dann: „Nichts“, und nach einer Pause „Und Du?“ „Auch nichts.“ Sie  is more“? Es war eine Betonkirche in Essen. In die Fensterwände hatten sie Glasbrocken
            lächelte, erleichtert. „Gut, dann verbringen wir heute den Tag zusammen, ja?!“ Julia schul-  eingelassen, blaue, rote, gelbe, faustgroße, kantige Klumpen, den Raum in geheimnisvol-
            terte ihren Rucksack: „Meine Fähre nach Korfu legt erst in fünf Stunden ab, hab noch  les Dämmerlicht tauchend. Schwer und roh und schön. Ich hob meine Kinderarme, be-
            etwas Zeit.“ „Korfu? Was wirst Du dort tun?“ Plötzlich schüttelte sie sich vor Nässe und  tastete die Oberflächen, ihre Kanten, ihr Leuchten. Und spürte es: Ein plötzliches Hoch-
            Kälte. „Vergessen.“ Ich wollte sie fragen „Was?“ und sagte: „Hey, es ist arschkalt, lass uns  gefühl, Glücksrauschen und dann, mit unvermittelter Wucht, den Abgrund dahinter.
            irgendwo ´nen Kaffee schlürfen!“ Sie nickte. Ich tat ein bisschen so, als kenne ich mich  Diese Verbindung alles Schöpferischen zu der sich selbst immer neu erschaffenden Welt,
            aus, ging entschieden voraus in eine krumme Nebengasse. Natürlich kreuzte nichts Ge-  zum Jenseits, zum Unerklärbaren. Ein überwältigendes, kaum zu ertragendes Gefühl.
            mütliches unseren Weg, nur Touristen, Reiseführer und feuchte Altbaufassaden. Vor  „Gefühl!“ Ich rief es, laut, begeistert. Julia betrachtete mich. „Ja... Gefühl.“ Sie sagte es
            einem Berg blauer Müllbeutel blieb ich stehen. „Komm, wir fahren mit dem Bus zu mir,  erst leise, dann wieder und wieder: „Gefühl! Deshalb: aus Gefühl!“ Dann lachte sie plötz-
            ok?“ „Ok!“ Mit dem Deckenlicht flimmerte der Fernseher auf, Rai 2 unerbittlich. „Man  lich, heftig, wurde geschüttelt vor Lachen, wurde still, kauerte sich auf den Kachelboden
            kriegt ihn nicht ausgestellt, guck einfach weg.“ Julia schaute hin. „Notizie aggorniate“,  und schlief ein, vor tiefer Erschöpfung. Am nächste Morgen, ich hatte sie noch ins Bett
            Nachrichtensendung: Brasilia. Demonstranten auf der Rampe zum Parlamentsgebäude.  gehoben, dann selbst im Bad gepennt, war sie weg. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel:
            Julia wandte sich ab, betrachtete mein Zimmer, das ungemachte Bett, die angebissene  „Bin nach BiIbao! Danke dir!“ „Danke dir“, sagte ich.

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