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REDINGS ESSAY
VOM NASHORN,
DAS ZUG FAHREN KONNTE
Ein Essay von Benjamin Reding
D en Ort, an dem es geschah, gibt es nicht mehr. Kalt war es, winterkalt. Dunstig-trüb, Flur, die jetzt immer öfter ausbrachen, dachte an meine letzte Krankenhausentlassung,
wie so oft in unserer Stadt. Kein Schnee und wenn, dann Schneematsch, grau und
die Krankenschwester, die mit mir schmipfte, weil ich einmal beim Spritze-Geben vor
schlammig. Durch das Gedränge der Bahnhofshalle schoben wir uns, wir: mein Vater Schmerz aufschrie. „Danke, dass Sie auf meinen Sohn Acht gegeben haben“, tönte die
und ich. Sonntag, verkaufsoffener Sonntag. Bei den Familieneinkäufen kamen sonst auch kräftige, sehr entschieden klingende Stimme meines Vaters, prallgefüllte Plastiktüten
Mutter und Bruder mit. Dieses Mal nicht. Es gab vorher Streit. Ich verstand nicht, worüber baumelten an seinen Händen. „Und einen kleinen Blumenstrauß, bitte.“ Ich wusste, der
genau. Aber das Wort Geld fiel, und seit Vater das Haus gebaut hatte, fiel dieser Begriff würde für Mutter sein, immer brachte er ihr aus der Stadt ein paar Blumen mit. Aber
häufig bei uns. Und auch ich war Thema. Zu Jahresanfang war ich erkrankt. „Das wird was würde meine Überraschung sein? Mein Vater verteilte Tüten und Blumenstrauß so,
schon wieder“, hatte der Kinderarzt aufmunternd behauptet, aber das wurde es nicht. dass er mir noch die Hand reichen konnte, und ich hielt mich an ihr fest, zügig schritt
Chronisch krank, für immer, stellten sie in der Kinderklinik fest. Danach hatte sich der Ton er zum Ausgang. Wieder vorbei an den Süßigkeiten. Wartete dort die Überraschung?
zwischen Vater und Mutter verändert. Im Hausflur hatten sie sich angeschrien, zwischen Aber ich behielt die Frage für mich, wollte das Geheimnis des Geschenks, die Vorfreu-
neuem Spiegelschrank, neuem Schirmständer und neuem Gäste-WC. Nun ging Vater mit de nicht gefährden. Neben einem Würstchenstand unter dem Vordach des Kaufhauses
mir allein. Einsilbig schritt er voran, meine Hand in seiner, zu der ich mich noch hoch- stoppte mein Vater, suchte etwas in seinen Manteltaschen. Jetzt platzte es aus mir her-
recken musste. Vater in Filzmantel und Pelzmütze, ich in Gummistiefeln, Daunenjacke, aus: „Die Überraschung, die Überraschung!“ Erwartungsvoll schaute ich zu Vater hoch.
Wollmütze und kratzigem Schal. Den hatte mir Mutter noch in der Haustür umgebunden. Aber er suchte nur nach einem Feuerzeug, um seine Pfeife zu entzünden. „Die was…?“
„Sonst holst Du Dir noch was!“ Der beißende Wind ließ die Glühbirnensterne in der Ein- Einen kurzen Moment schwieg Vater, stand bewegungslos, starrte ins Leere. Dann fasste
kaufsstraße hin und her schwanken. Vor einem Tabakla- er sich, sah hin und her, auf die Passanten, auf den
den machte Vater den ersten Halt. Eine fremde, dämmrig dampfenden Würstchenstand, dann auf die Schaufens-
beleuchtete Welt: der Geruch, die Packungen, der ältere ter des Kaufhauses gegenüber. „Da!“ Plötzlich kehrte
Herr hinter dem Tresen. Vater, der passionierte Pfeifen- die Lautstärke, die Sicherheit in Vaters Stimme zurück:
raucher, fragte nach der Tabakpfeife seiner Lieblingsmar- „Das ist sie: die Überraschung!“ Er atmete erleichtert
ke. Der Herr zeigte ihm das gewünschte Modell, Vater aus, zeigte energisch in die Richtung des Kaufhauses.
fragte nach dem Preis und kaufte dann nur eine Packung Ich reckte mich, sah aber nur die Beine, Mantelsäume,
Pfeifenreiniger; lange, dünne Stäbchen, rundherum mit Plastiktüten der Passanten. Dann endlich, eine Lücke
Watte umwickelt, ideal zum Verbiegen und stundenla- tat sich auf, und ich sah es: ein Wunder! Hell erleuchtet
gen Spielen. Dann weiter durch den Schneeregen, den hinter den Kaufhausschaufenstern! Ein Zug mit Dampf-
unerklärten Wegen Vaters folgend, zu einem Juwelier. Ich lok zuckelte dort vorbei. Ein Modellzug, aber ein großer,
solle mich setzen und warten. Das tat ich, immerhin, hier fast so groß wie ich! Und davor und dahinter, über alle
war es warm. Vater betrachtete die gläsernen Vitrinen, Schaufenster hinweg, erstreckte sich eine Landschaft.
ließ sich ab und an etwas zeigen und erklären. Armbän- Mit Hügeln, Wäldern und Wiesen, Bächen, Brücken,
traute mich aber nicht, ihn zu fragen, zu angespannt, zu Grafik: Benjamin Reding werkhäuser, Wassermühlen, Handwerksbuden und
sanft schwingenden Wegen und Dörfern voller Fach-
der, Glitzersteinchen, Goldringe, die für mich aussahen
wie die Ringe aus den Kaugummi-Automaten. Warum
kaufte Vater sie nicht einfach dort, am Automaten? Ich
Kirchtürmen. Und darin – es war unglaublich – beweg-
ten sich lauter Stofftiere und bedienten diese phantas-
schmallippig betrachtete er die Ringe, Steine, Ketten, ließ sich den Preis sagen und kauf- tische Welt. Ein Löwe hämmerte eifrig in der Dorfschmiede, Eichhörnchen buken Brot,
te am Ende nichts. Die Läden der Erwachsenen, mit ihren geheimen Regeln und Riten Bären boten auf dem Marktplatz Honig feil, aus den Zugfenstern winkten Hasen, Mäuse
des Kaufes, das ernste, ausdauernde Reden über Größen, Materialien und Preise – ich und Igel, und in der ordentlich qualmenden Dampflok standen im Führerhaus eine Giraf-
verstand es nicht. Und hoffte auf baldige Heimfahrt. „Im Kaufhaus ist alles günstiger fe und ein Nashorn. Die Giraffe schippte Kohlen, das Lokführer-Nashorn pfiff die Triller-
als in den Fachgeschäften“, murmelte Vater, mehr zu sich. Draußen durchweichte der pfeife. Wieder und wieder. So nah trat ich an die Scheiben heran, dass ich fast selbst Teil
Schneeregen selbst Mutters Schal. Vielleicht bemerkte er die Unruhe in meiner Hand, er dieser Landschaft wurde. Überströmt von der Erkenntnis, dass Stofftiere, so wie ich sie
beugte sich zu mir herunter, sagte: „Danach fahren wir zurück”, betrachtete kurz mein doch auch zu Hause in meinem Bett hatte, eine wunderbare Welt zum Leben erwecken
durchgefrorenes, gerötetes Gesicht und setzte plötzlich fahrig-eilig nach: „Und dann, ... konnten. Was für eine Überraschung! „Jetzt gehen wir aber heim, einen Zug haben wir
dann gibt es auch noch eine Überraschung.“ Das Gebläse der warmen Luft an den Kauf- schon verpasst.“ Mein Vater nahm wieder meine Hand und ich ging, den Kopf nochmals
haus-Eingangstüren tat gut. Es roch nach Anis und Fruchtgummis: Gleich hinter dem Ein- und nochmals zu den Schaufenstern wendend, mit ihm davon. Natürlich gibt es das alles
gang standen die Regale mit Süßigkeiten. Wieder sollte ich warten, dieses Mal im Kauf- nicht mehr. Die Fenster sind lange schon vernagelt, der Eingang vermauert, das Kaufhaus
haus-Blumenladen. Ein bläulich leuchtendes Aluminium-Rechteck voller Blumen und geschlossen, das andere gegenüber schon vor Jahren abgerissen. Nur manchmal, wenn
Pflanzen hinter beschlagenen Scheiben, fast wie ein Aquarium. „Ich hole meinen Sohn ich zufällig bei meinen Reisen doch noch irgendwo in einer Innenstadt auf ein Kaufhaus
gleich wieder ab.“ Die junge Frau am Verkaufstresen stellte bedächtig Sträuße zusam- stoße, so ein hässliches Ding aus den 1970er-Jahren, ich das Gebläse am Eingang spüre,
men. Sie nickte und lächelte und arbeitete schweigend weiter. Nur das Knacks-Knacks die warme, manchmal nach Anis und Fruchtgummi duftende Luft einatme, dann stehe
ihrer Blumenschere durchbrach ab und an die Stille. Ich wartete, lange, sehr lange und ich wieder vor den großen, hellerleuchteten Schaufensterscheiben, meine kleine Hand
dachte beim Warten erst an Aquarien und ihre stummen Bewohner, was die wohl sehen fest in der warmen Pranke meines Vaters ruhend, und sehe den Löwen schmieden und
und denken, wenn sie durch das Glas gucken, dann an den Streit, die Wortgefechte im den Modellzug fahren. Und bin für einen kurzen Moment glücklich.
048 • AIT 1/2.2025