Page 94 - AIT1120_E-Paper
P. 94
GESUNDHEIT UND WELLNESS • HEALTH AND SPA
„Wir wollten in den Gebäuden
alle Sinne ansprechen, gleichzeitig
aber nicht zu viele verschiedene Farben
und Materialien einsetzen.“
Sylvain Villard
ZENTRUM FÜR TAUBBLINDE
IN LANGNAU AM ALBIS
Entwurf • Design Scheibler & Villard, CH-Basel
Wie baut man für Menschen, deren Hör- und Sehvermögen stark
eingeschränkt sind – oder gar gänzlich fehlen? Mit der Planung
zweier Neubauten für Tanne, die Schweizerische Stiftung für
Taubblinde, betrat das Basler Büro Scheibler & Villard architekto-
nisches Neuland. Vergleichbare Referenzprojekte, an denen sich
die Architekten hätten orientieren können, gab es bis dato nicht.
von • by Susanne Lieber
B eispiele für Blindenheime gibt es viele, nicht aber für Taubblindenheime“, erklärt
Architekt Sylvain Villard. Aber was muss Architektur leisten, damit sich Menschen
mit doppelt beeinträchtigter Sinneswahrnehmung orientieren können? Welche Mög-
lichkeiten gibt es, Räume nicht nur optisch, sondern auch haptisch, akustisch und ol-
faktorisch erfahrbar zu machen? Die beiden neuen Ergänzungsbauten der Stiftung – ein
Wohnhaus sowie ein Schul- und Betriebsgebäude mit integrierter Cafeteria – liefern
überzeugende Antworten. Zunächst wurde den Gebäuden, um deren Grundstruktur
aus Beton sich Volumina in Holzelementbauweise legen, jeweils eine Farbfamilie zu-
geordnet. Innerhalb der Farbfamilie – Rot beziehungsweise Grün – spielen vor allem
Hell-Dunkel-Kontraste eine wichtige Rolle. Warum, wird in einem kurzen Selbstversuch
klar: Je stärker man die Augen zukneift, desto mehr Farbinformationen gehen verloren.
Kontraste hingegen bleiben lange erkennbar. So ist es kein Zufall, dass im Treppenhaus
Wand, Boden und Treppenstufen markante Helligkeitsunterschiede aufweisen, um
räumliche Orientierung zu bieten. Dasselbe Prinzip in den Sanitärbereichen: Stark kon-
trastierende Fugen heben das Verlegeraster der Fliesen besonders deutlich hervor. Je
nachdem, ob diagonal, vertikal oder horizontal verlaufend, gibt das Muster Aufschluss
darüber, in welchem Geschoss man sich befindet. Darüber hinaus ist dies haptisch er-
fahrbar. Analog dazu wurden die Wände des zentralen Betonkörpers mit entsprechen-
den Reliefstrukturen versehen. Selbst auf olfaktorischer und akustischer Ebene sind
die Räume erlebbar. Unterschiedliche Materialien – Beton, Holz und Linoleum – lassen
differenzierte Duftqualitäten entstehen. Und diese lassen Rückschlüsse darauf zu, wo
man sich im Gebäude befindet. Auch die Akustik spielt bei der Orientierung eine wich-
tige Rolle. Jeder Raum weist eine eigene Schallidentität auf. In den Unterrichtszimmern
wurde beispielsweise auf besonders kurze Nachhallzeiten geachtet, um die Verständ-
lichkeit im Raum zu optimieren. Mit diesem Vorzeigeprojekt ist beispielhaft bewiesen,
wie stark Architektur Einfluss nehmen kann – auf alle (!) unsere Sinne.
094 • AIT 11.2020