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Annika Naber


                                                                                               1997 geboren in Gütersloh 2016-2021 B.A. Innenarchitektur, TH Ostwest-
                                                                                               falen-Lippe, Detmold 2018-2019 Auslandssemester, Hochschule Luzern,
                                                                                                Schweiz 2021-2022 Masterstudium Innenarchitektur, Hochschule Trier




             von • by Annika Naber, Trier
             S   eit rund 378 Jahren prägt das Franziskanerkloster das Stadtbild von Wiedenbrück.
                 Im Jahr 2020 verließen die Franziskaner das Kloster wegen Nachwuchsmangels.
             Mein Bachelorentwurf mit dem Titel „Dritter Ort“ – betreut durch Prof. Dipl.-Ing. Sandra
             Bruns und Dipl.-Ing. Sascha Homburg – befasst sich mit den erschreckend hohen Zahlen
             von burnoutbetroffenen und depressiven Menschen und bietet mit den drei wichtigen
             Themen Gemeinschaft, Handwerk und Rückzug eine präventive Lösung: die Umnutzung
             des Klosterareals zu einem Ort der Entspannung und der Besinnung. Der Wunsch nach
             Auszeiten und analoger Leichtigkeit wird in unserer Gesellschaft immer lauter. Aus die-
             sem Ansatz heraus wird eine Aufgabe der Mönche und Nonnen, nämlich die Seelsorge,
             in eine zeitgemäße Innenarchitektur übersetzt – dabei soll ein Ort entstehen, der den Nut-
             zerinnen und Nutzern durch verschiedene Aktivitäten einen Ausgleich zum hektischen
             Alltagsleben bietet. Im Entwurf wird das Bestandsgebäude modernisiert und durch iden-
             titätsstiftende Elemente ergänzt, ohne dabei an Kloster-Charme einzubüßen.
             Das Leben der Franziskanermönche als Entwurfsreferenz


             Als Dritter Ort bezeichnet man Plätze des Zusammentreffens, die den Menschen im länd-
             lichen Raum die Möglichkeit der Begegnung mit Kunst und Kultur sowie einen Ausgleich
             zu Familie und Beruf bieten sollen. Damit sich auch an „meinem“ Dritten Ort jeder gut
             aufgehoben fühlt, gestaltete ich seine Umgebung – ganz dem Bescheidenheitsdogma der
             Franziskanermönche „verpflichtet“ – einfach, selbsterklärend und anregend. Mein Ent-
             wurf bringt diese Tugenden in Einklang mit der Gegenwart. Doch nicht nur das beschei-
             dene Wesen, sondern ebenso die Gemeinschaft, das Handwerk und den Rückzug – wei-
             tere Anliegen, Merkmale und Aufgaben des Ordens – übertrug ich auf den Innenraum.
              Vor allem während der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie sehr wir den zwischen-
             menschlichen Kontakt benötigen. Dies verinnerlichten die Franziskaner schon früh und
             schufen Orte, die allen Bewohnern zugänglich waren. Einer dieser Räume ist das soge-  Im Kreativraum lässt sich bei Handarbeiten abschalten. • One is able to chill in the creative room.
             nannte Refektorium, ein mit Vertäfelungen geschmückter Speiseraum und von jeher ein
             Ort des kommunikativen Austauschs. Mein Konzept sieht vor, diesen Charakter zu wah-  Bereits beim Eintritt ins Foyer erhält man Informationen. • Visitors are provided with information at the foyer.
             ren und den Raum durch wenige Eingriffe – mit Rücksicht auf Flexibilität, Modularität
             und Gemütlichkeit – in eine Location für Zusammenkünfte und Events zu verwandeln.
             Sie gilt als Bindeglied aller weiteren Funktionen des Gebäudes und lockt Interessierte an.
             Ausgleich und Rückzug im Obergeschoss


             Dass das traditionelle Handwerk im Leben der Mönche eine wichtige Rolle spielt, zeigt
             folgendes Zitat aus dem Testament des Ordengründer Franziskus von Assisi: „Und ich ar-
             beitete mit meinen Händen und will arbeiten; und es ist mein fester Wille, dass alle an-
             deren Brüder eine Handarbeit verrichten, die ehrbar ist. Die es nicht können, sollen es
             lernen, nicht aus dem Verlangen, Lohn für die Arbeit zu erhalten, sondern um ein Beispiel
             zu geben wegen und den Müßiggang zu vertreiben.“ Auch in der heutigen Zeit greifen
             Menschen gerne zur Stricknadel. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Handarbeit die
             Gruppendynamik stärkt und zur Entspannung und Entschleunigung beiträgt. Aus diesem
             Grund entwickelte ich für das Obergeschoss eine Kreativwerkstatt. Eine klare Struktur
             und eine helle Umgebung bieten hier den nötigen Freiraum, um sich kreativ auszutoben.
             Unter der Philosophie der Rückbesinnung auf das Wesentliche steht den Nutzern ein Co-
             Living-Angebot zur Verfügung. Es bietet die Möglichkeit, in den Räumen des ehemaligen
             Klosters zu leben – wenn auch nur vorübergehend. Das Ziel ist es, das Gebäude gestärkt
             und mit neuen Anreizen zu verlassen und die Erfahrungen anschließend auf den Alltag
             zu übertragen. Die reduzierte Innenarchitektur wirkt dabei nüchtern und beruhigend.
             Einbaumöbel, die den Besucher scheinbar umarmen, greifen das Geborgenheitsgefühl
             auf. Das historische Bestandsgebäude aufzuarbeiten sowie der Stadt und ihren Bewoh-
             nern neue Lebensqualität zu schenken, waren die Hauptziele meiner Bachelorarbeit. Ent-
             standen ist ein Ort, der die Wichtigkeit des Analogen zurück ins Bewusstsein ruft.

                                                                                                                           AIT 12.2022 • 045
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