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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL  •  CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                             r Auf YouTube ist von Ihnen der sehr reflektierte, die Selbstdarstellung in sozialen
                                                                             Medien kritisch hinterfragende Beitrag „Perfect Illusions“ zu sehen. Sie schaffen
                                                                             selbst fantastische Inszenierungen, plädieren aber dafür, die Realität nicht aus den
                                                                             Augen zu verlieren. Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Fotos als Kunst und nicht als
                                                                             Abbild des wahren Lebens wahrgenommen werden?
                                                                             Ich glaube, die größte Gefahr sozialer Plattformen wie Instagram liegt darin, die dahinter-
                                                                             liegende Realität zu vergessen und sich mit all der gezeigten Perfektion zu vergleichen.
                                                                             Eigentlich sind wir uns alle bewusst, dass online vor allem ausgewählte Bilder toller
                                                                             Momente, aus schönen Blickwinkeln fotografiert und oft nachbearbeitet, gezeigt wer-
                                                                             den. Dennoch vergisst man leicht, dass all die freudestrahlenden, makellosen Menschen
                                                                             auch schlechte Tage und Probleme haben. Ich erzähle auch von schwierigen Tagen, von
                                                                             Depression und  Zweifel, und  von meinem eigenen Kampf mit dem ständigen
                                                                             Vergleichen. Oft ist Melancholie das Hauptthema und die Location besteht aus einem
                                                                             Waldboden oder schroffen Felswänden. Natürlich sieht man meinen Bildern den Drang
                                                                             zur ästhetischen Darstellung all dieser Themen an. Inhaltlich betrachte ich meine Bilder
               „Woven Eye“: Fokusierung und Komposition • “Woven Eye”: focusing and composition  als Tagebuchseiten. Aber da ich nicht dokumentarisch, sondern inszenatorisch arbeite,
                                                                             sind meine Fotos keine Abbilder „echter“ Momente. Es ist immer schwer, die eigene
                                                                             Arbeit objektiv von außen zu sehen. Aber diejenigen, die meine Arbeiten schon eine
                                                                             Weile verfolgen, verstehen sie recht gut.


                                                                             r Sie bezeichnen Fotografie „als eine Art Therapie, die es ermöglicht, sich selbst und
                                                                             andere zu heilen“. Wie ist das gemeint?
                                                                             Tatsächlich ist das sehr wörtlich gemeint. Ich habe viele Jahre unter Depressionen gelit-
                                                                             ten und mein Rettungsanker waren meine Selbstporträts. Wenn man äußerlich nur
                                                                             noch aus einer stummen, funktionierenden Fassade besteht und innerlich nur noch
                                                                             aufgeben will, ist es unglaublich wichtig, einen Weg zu finden, sich auszudrücken. Für
                                                                             mich waren das meine Selbstporträts. Einem Bild kann man alles erzählen, ohne Angst
                                                                             vor Reaktionen jeglicher Art zu haben. Später ist mir bewusst geworden, dass ich mir
                                                                             viel Leid hätte ersparen können, wenn Depressionen nicht immer noch ein Tabuthema
                                                                             wären oder als Wehwehchen abgetan würden. Danach habe ich angefangen, meine
                                                                             Bilder und Erfahrungen online zu teilen. Die Flut an Botschaften von Menschen, die mir
                                                                             daraufhin schrieben, war unfassbar. Es war schön, von so vielen Menschen zu hören,
               „Cocoon“: Spielplatz-Shooting in Montana/USA • “Cocoon”: playground shooting in Montana/USA  dass ich ihnen Mut machte, dass sie sich verstanden fühlten und von meinen Fehlern
                                                                             lernen konnten. Natürlich macht man sich verletzlich, wenn man das öffentlich erzählt.
                                                                             Es braucht Mut und Stärke, seine Verletzlichkeit zu zeigen.

                                                                             r Gibt es noch Tage, an denen Sie das Haus ohne Kamera verlassen, oder überwiegt
                                                                             die Angst, die perfekte Gelegenheit zu verpassen?
                    „Don’t look at me. Just feel my soul.“                   Tatsächlich bin ich  wieder  vermehrt ohne Kamera unterwegs. Falls ich über eine
                                                                             Location stolpere, kann ich erste Fotos auch mit der Handykamera machen und dann
                                                                             zurückkommen. Natürlich kommt es trotzdem vor, dass ich beim Stadtbummel ein
                                    Laura Zalenga
                                                                             besonderes Gesicht entdecke und mich ärgere, die professionelle Kamera nicht  dabei-
                                                                             zuhaben. Über die Jahre hat sich aber eine gewisse Gelassenheit eingestellt. Ich muss
                                                                             Motive auch ziehen lassen können.


                                                                             r Woran arbeiten Sie derzeit? Auf welche neue Serie dürfen wir uns freuen?
                                                                             Gerade stehe ich in den Startlöchern für eine Serie über die Schönheit des Alters. In den
               „Coal-Hill“: Location als beste Inspirationsquellen • “Coal-Hill”: location for best sources of inspiration
                                                                             letzten Jahren ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass unsere Gesellschaft Alter und
                                                                             Schönheit fast schon als Gegensätze ansieht. Ich begegne täglich alten Menschen, deren
                                                                             Schönheit mich fesselt. Wenn ich ihnen das sage, steht ihnen Unglaube ins Gesicht
                                                                             geschrieben oder es schwimmen Tränen in ihren Augen. Meine Serie soll explizit die
                                                                             Schönheit alter Gesichter zeigen. Zur Serie gehört auch eine inhaltliche Ebene. Men-
                                                                             schen, die von 80 Jahren Leben erzählen können, sind unglaubliche Schätze. Wer, wenn
                                                                             nicht sie, haben eine Ahnung von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens? Gefragt
                                                                             und gehört werden sie aber viel zu selten. Ich werde also fotografieren und fragen, und
                                                                             am Ende hoffentlich ein wenig die Angst vor dem Alter verschwinden lassen.

                                                                             r Ihre Fotos berühren emotional. Was ist das schönste Kompliment, das Ihnen auf-
                                                                             grund Ihrer Arbeit zuteilwurde?
                                                                             Genau dies: emotional berühren. Natürlich freut es mich, wenn Menschen meine Bilder
                                                                             „schön“ finden, aber noch viel mehr freut es mich, wenn meine Bilder die Betrachter
                                                                             bewegen. Eines meiner liebsten Komplimente stammt  von einer jungen Frau aus
                                                                             Rumänien: „Your images make me feel alive.“

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