Page 54 - AIT1123_E-Paper
P. 54

REDINGS ESSAY

                                    MEINE NACHT



                                     IN NEUKÖLLN





                                                       Ein Essay von Dominik Reding




     N  eukölln ist toll! Das sagen alle. Besonders die, die es „X-Kölln“ nennen, also: Kreuzkölln.   tektennamen. Ein silbriges Riesending mit 300 Meter Glaspassage und Kunst von Markus
        Die junge, hippe, internationale Traveller-Bohème. Nacht für Nacht belagern sie die  Lüpertz. „Dort können die Patienten flanieren, wie in einem Museum. Ein Krankenhaus, auf
     Clubs, Bars, Restaurants zwischen den alten Berliner Arbeiterbezirken Kreuzberg und Neu-  dem Niveau eines Kurhotels“, lobte ein Kritiker. Das Schild „Notaufnahme“ wies jetzt genau
     kölln. Meist sprechen sie in Englisch, aber auch auf Spanisch, Italienisch, ab und an auch  dorthin: Zur Glaspassage. Auf der ehemaligen „Flaniermeile“ parkten die Betten dicht an dicht,
     Polnisch oder Tschechisch über ihre letzten Reisen, Ausstellungen, Fashion Shows. Wie Léon.   alle belegt. Es roch nach Fäkalien, auf dem Marmorboden Pfützen aus Urin. Und von überall
     Léon aus Uruguay. Der in Berlin seine Kunst ausstellt. Fotos von Drag-Kings aus dem Under-  her: Stöhnen, Gemurmel, Fluchen. Kein Léon. „Der wurde grade abgeholt,“ gab eine überfor-
     ground Montevideos. Ich kannte ihn nicht, auch seine Kunst nicht, aber war zur Eröffnung  derte Krankenschwester muffig Auskunft. „Psychiatrische Abteilung, Haus 4.“ „Wieso? Es war
     eingeladen. Und ging hin. Ein grauer Septembertag, Gruppenausstellung in einer kleinen   ein Unfall.“ „Na, bei Diabetikern weiß man ja nie...“. Sie spürte mein Unbehagen, setzte nach:
     „Geheimtipp“-Galerie in Schöneberg. Monochrome Farbkuben links, expressive Strich-Exta-  „Er kann gehen, wann er will, ist alles freiwillig.“ Auf dem Weg zu Haus 4, durch die verstellten,
     sen rechts, und dazwischen, in verschnörkelten Goldrahmen, Léons Drag-Kings. Léon stand   verschmutzten, einst baukünstlerisch so gepriesenen Gänge, erfasste mich ein Gedanke: Etwas
     nervös am Eingang. „Herzlich willkommen!“ Er sagte es zu jedem Besucher, auch zu mir, auf   läuft falsch in unserer Gesellschaft, und Schuld sind nicht die Architekten. „Jetzt setzen Sie
     Deutsch. „Meine Großeltern stammen aus Tübingen“, erklärte er. Und dann, lächelnd: „Habe   erstmal Ihre Maske auf!“ Die Oberschwester empfing mich. Léon lag im Stationsflur, im Kran-
     es gelernt, un poco.“ Er sah aus wie viele junge Männer der hippen Traveller-Szene: Dünner   kenbett. „Ja, die Viererzimmer sind noch belegt“. „Aber er ist Diabetiker, er muss sich doch
     Oberlippenbart und Mönchsfrisur, die Seiten kurz, die Haare vorn brav in die Stirn gekämmt.   versorgen.“ „Na, das entscheiden noch wir.“ Sie betrachtete mich. „Sie sind?“ „Sein Bekannter,
     Er fragte mich nach der Kunstszene in Berlin und meiner Profession. Ich kannte das spani-  der den Notarzt gerufen hat.“ Léon sah mich, winkte erschöpft herüber, wirkte sediert. „Bis
     sche, entlegen klingende Wort und sagte es: „Película!“ „Ah, Film!“ Léon grinste und rasselte   wann soll er denn hier sein?“ „Bis wir entscheiden, dass es ihm besser geht!“ Sie lächelte,
     froh Hunderte Filmtitel herunter. „Me gusta películas!“ Plötzlich wurde es still in der Galerie,   eisern-bestimmt. Zwei bullige Pfleger traten hinzu, tuschelten. Leise sprach ich mit Léon: „Sag,
     die Besucher starrten auf ihre Handys, viele gingen. „Was ist los?“ fragte ich Léon. Er deutete   willst Du wirklich hier sein?“ Er schüttelte den Kopf. „No...“ „Ok, dann zieh das an.“ Ich gab
     auf sein Smartphone: „Breaking news: Queen Elisabeth II is dead“. Er schüttelte den Kopf.   ihm Hose, Hemd und Turnschuhe, wandte mich zur Schwester: „Mein Bekannter hat es ich
     „Ich dachte, sie lebt für ewig“, seufzte und dann: „Kennst Du Kreuzkölln?“   anders überlegt. Wir werden jetzt gehen. Danke für Ihr Hilfsangebot.“ Ohne
     „Na klar, da wohne ich!“ Jetzt war die Trauer verflogen: „Oh, muy bueno!    Antwort stapfte sie in ihre verglaste Stationszentrale. „Klack!“ Die Eingangs-
     Alle reden davon, in Montevideo. Zeig es mir! Por favor! Ja?!“ Damit        türen der Station verschlossen sich. Ich schaute zu León, langsam wie ein
     begann der Abend. Wir fuhren mit der U-Bahn zum Hermannplatz und            Raumfahrer zog er die Hose an. Ich ging zum Notausgang, rüttelte, auch
     zogen durch eine Handvoll angesagter Clubs. Später, nach diversen Vod-      der: verschlossen. Ich ging zur Stationszentrale. Eilig fiel die Tür zu: ver-
     ka-Mule und Hefeweizen, ging er zur Toilette. Er tat es oft. Aber wer ver-  schlossen. „Was ist los?!“ Einer der bulligen Pfleger rief es mir zu, stellte
     trägt schon Vodka-Mule und bayerisches Bier? Ich fragte nach den Drag-      sich demonstrativ vor die Ausgangstür. „Ich möchte die Stationsärztin spre-
     Kings, dem Nachtleben, seinem Leben in Montevideo. Seine Antworten,         chen.“ Meine Stimme zitterte. „Die hat heute Urlaub“. Der Pfleger grinste.
     erst humorvoll und gewitzt, gerieten fahrig, jetzt sah ich, dass er zitterte,  Foto: Benjamin Reding  Jetzt ruhig bleiben, mit bemüht lässiger Geste zog ich mein Handy hervor:
     heftig schwitze. Hatte er die falschen Drogen intus? Dann ließ Léon sein    „Wir werden gehen! Ich rufe jetzt Frau Stein an, Staatssekretärin im Bundes-
     Bierglas fallen, bückte sich, kramte aufgeregt nach den Scherben, bestellte   bildungsministerium, die kenne ich seit meiner Schulzeit.“ (Was stimmte).
     mühsam ein Neues. Und ließ auch das Glas fallen. Es glitt ihm aus der Hand, völlig kraftlos.   Der bulligste Pfleger nahm sein Walkie-Talkie, drückte einen Knopf. Dann tauchte die Ober-
     „Du pennst jetzt bei mir, ok?“ Der kurze Heimweg geriet lang, sein Gang eierte, seine Beine,   schwester wieder auf, sagte kühl, ich könne gerne gehen, aber allein. Léon hatte die Hose fast
     sein ganzer Körper schien jeden Halt zu verlieren. Dann oben in meiner Wohnung, als ich ihn   an, jetzt schnürte er die Schuhe, zeitlupen-langsam. Ich drückte prüfend gegen die Tür, sie blieb
     bat, sich schlafen zu legen, krampfte er plötzlich, riss sich die Jacke vom Leib, chaotisch, der   verschlossen. Es wurde surreal, ich bekam Angst. Echte, große, abgrundtiefe Angst. Sollte ich
     Inhalt seiner Taschen fiel zu Boden: Pass, Geld, EC-Karten und ein länglicher, schmaler Gegen-  doch aggressiv werden? Ich unterdrückte mein Beben, tippte demonstrativ ruhig die Nummer
     stand. Ein Insulin-Pen. Er sah, dass ich es sah, grinste wirr: „Soy diabético“, dann wurde er   ins Handy, horchte. Die Oberschwerster beobachtete mich, intensiv, hin- und hergerissen zwi-
     ganz ernst, „Fehler gemacht, zu viel... Insulin“, und sackte weg. Ohnmacht. Notruf! „Ein dia-  schen Allmacht und möglichem Jobverlust. Ich setzte alles auf eine Karte: „Sie ist dran!“ (Was
     betischer Unfall, bitte, kommen Sie schnell!“ Neukölln am Freitag. Wie lang würde es dauern?     nicht stimmte). Die Oberschwester lief los, Richtung Stationszentrale. Plötzlich „Klack“, hörte
     Aber schon nach ein paar Minuten ein Klingeln an der Tür: Eine zielstrebige Notärztin und  ich die Schlösser aufspringen, packte Léon, flüsterte: „Raus, jetzt!“ und tatsächlich, die Tür ließ
     zwei besonnene Sanitäter „Ja, ging schnell. Die tote Königin fegt die Straßen frei, alle gucken   sich öffnen, Léon taumelte zum Ausgang. „Dreh Dich nicht um!“ Ich aber tat es: Die Ober-
     TV“, sagte die Ärztin, kniete sofort bei Léon, spritzte Glucose, testete seinen Blutzucker, setzte   schwester telefonierte hektisch, die Pfleger rannten zu ihr. Wo war noch der Fahrstuhl? Wo
     nach, drei, vier Injektionen. Er kam kurz zu sich, schaute uns betrübt an. Sie testete wieder,   überhaupt der Hauptausgang? Im Erdgeschoss wurden Notausgangstüren gestrichen, eine
     dann zu den beiden Sanitätern: „Er muss ins Krankenhaus, Intensivstation, sofort!“ und zu   stand auf: Die! Nur nicht auffallen! Nur gerade durch zum Haupttor, das sich – oh nein! – elek-
     mir: „Wir rufen Sie an.“ Glucose-Katheter, Trage, mühsamer Gang durchs Altbautreppenhaus,   trisch schloss. Die magische Grenze kam näher, näher, näher. Nur noch ein Schritt: Draußen!
     sie nannte mir eilig das Krankenhaus, dann rauschten sie mit Blaulicht über die leeren Stra-  „God bless you, please, Mrs. Robinson!“ Plötzlich hatte ich diese Musik im Kopf und diese
     ßen davon. Oben, in der Wohnung Stille. Nur das durchgeschwitzte Bettzeug und die leeren   Filmszene. Die beiden frisch Nichtverheirateten auf der Flucht. Im Film naht Rettung: Ein Bus.
     Kanülen. Die Stille blieb. Kein Anruf. Ich rief an. „Nein, Sie können nicht kommen, er wird   Hier muss auch ein Bus kommen, bitte, wie im Film. Ein Bus kam! Ich hatte keine Fahrkarte,
     noch verlegt, unsere Intensivstation ist voll.“ Der Morgen dämmerte, wieder rief ich an, neue   Léon kein Geld. Der Busfahrer ließ uns passieren. Zu Hause, in meiner Wohnung  packte ich
     Schicht, neuer Arzt: „Léon? Léon wer? Ja, der ist noch hier, ja immer noch in der Notaufnah-  Léon ins Bett, gab ihm zu Essen, kochte Kaffee. Er wurde ganz wach, endlich. „Das war ja wie
     me. Alle Intensivstationen sind belegt, in ganz Berlin. Wie es ihm geht? Na, besser.“ Ich fuhr   im Film, come un película“, sagte er. „Erst ‚The Queen‘, dann ‚One flew over the cuckoo´s nest‘
     hin. Packte eilig ein paar Sachen zusammen, T-Shirt, Hose, Turnschuhe. Das Krankenhaus  und zuletzt ‚The Graduate‘, und alles zusammen: ‚Fear and loathing in Neukölln‘.“ Da lachte
     kannte ich. Es war einmal berühmt. Ein „Neubau“ aus den 1980er-Jahren mit großem Archi-  er. Laut und ausgelassen. Das erste Mal seit gestern Nacht.


     054  •  AIT 11.2023
   49   50   51   52   53   54   55   56   57   58   59