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REDINGS ESSAY
MEINE NACHT
IN NEUKÖLLN
Ein Essay von Dominik Reding
N eukölln ist toll! Das sagen alle. Besonders die, die es „X-Kölln“ nennen, also: Kreuzkölln. tektennamen. Ein silbriges Riesending mit 300 Meter Glaspassage und Kunst von Markus
Die junge, hippe, internationale Traveller-Bohème. Nacht für Nacht belagern sie die Lüpertz. „Dort können die Patienten flanieren, wie in einem Museum. Ein Krankenhaus, auf
Clubs, Bars, Restaurants zwischen den alten Berliner Arbeiterbezirken Kreuzberg und Neu- dem Niveau eines Kurhotels“, lobte ein Kritiker. Das Schild „Notaufnahme“ wies jetzt genau
kölln. Meist sprechen sie in Englisch, aber auch auf Spanisch, Italienisch, ab und an auch dorthin: Zur Glaspassage. Auf der ehemaligen „Flaniermeile“ parkten die Betten dicht an dicht,
Polnisch oder Tschechisch über ihre letzten Reisen, Ausstellungen, Fashion Shows. Wie Léon. alle belegt. Es roch nach Fäkalien, auf dem Marmorboden Pfützen aus Urin. Und von überall
Léon aus Uruguay. Der in Berlin seine Kunst ausstellt. Fotos von Drag-Kings aus dem Under- her: Stöhnen, Gemurmel, Fluchen. Kein Léon. „Der wurde grade abgeholt,“ gab eine überfor-
ground Montevideos. Ich kannte ihn nicht, auch seine Kunst nicht, aber war zur Eröffnung derte Krankenschwester muffig Auskunft. „Psychiatrische Abteilung, Haus 4.“ „Wieso? Es war
eingeladen. Und ging hin. Ein grauer Septembertag, Gruppenausstellung in einer kleinen ein Unfall.“ „Na, bei Diabetikern weiß man ja nie...“. Sie spürte mein Unbehagen, setzte nach:
„Geheimtipp“-Galerie in Schöneberg. Monochrome Farbkuben links, expressive Strich-Exta- „Er kann gehen, wann er will, ist alles freiwillig.“ Auf dem Weg zu Haus 4, durch die verstellten,
sen rechts, und dazwischen, in verschnörkelten Goldrahmen, Léons Drag-Kings. Léon stand verschmutzten, einst baukünstlerisch so gepriesenen Gänge, erfasste mich ein Gedanke: Etwas
nervös am Eingang. „Herzlich willkommen!“ Er sagte es zu jedem Besucher, auch zu mir, auf läuft falsch in unserer Gesellschaft, und Schuld sind nicht die Architekten. „Jetzt setzen Sie
Deutsch. „Meine Großeltern stammen aus Tübingen“, erklärte er. Und dann, lächelnd: „Habe erstmal Ihre Maske auf!“ Die Oberschwester empfing mich. Léon lag im Stationsflur, im Kran-
es gelernt, un poco.“ Er sah aus wie viele junge Männer der hippen Traveller-Szene: Dünner kenbett. „Ja, die Viererzimmer sind noch belegt“. „Aber er ist Diabetiker, er muss sich doch
Oberlippenbart und Mönchsfrisur, die Seiten kurz, die Haare vorn brav in die Stirn gekämmt. versorgen.“ „Na, das entscheiden noch wir.“ Sie betrachtete mich. „Sie sind?“ „Sein Bekannter,
Er fragte mich nach der Kunstszene in Berlin und meiner Profession. Ich kannte das spani- der den Notarzt gerufen hat.“ Léon sah mich, winkte erschöpft herüber, wirkte sediert. „Bis
sche, entlegen klingende Wort und sagte es: „Película!“ „Ah, Film!“ Léon grinste und rasselte wann soll er denn hier sein?“ „Bis wir entscheiden, dass es ihm besser geht!“ Sie lächelte,
froh Hunderte Filmtitel herunter. „Me gusta películas!“ Plötzlich wurde es still in der Galerie, eisern-bestimmt. Zwei bullige Pfleger traten hinzu, tuschelten. Leise sprach ich mit Léon: „Sag,
die Besucher starrten auf ihre Handys, viele gingen. „Was ist los?“ fragte ich Léon. Er deutete willst Du wirklich hier sein?“ Er schüttelte den Kopf. „No...“ „Ok, dann zieh das an.“ Ich gab
auf sein Smartphone: „Breaking news: Queen Elisabeth II is dead“. Er schüttelte den Kopf. ihm Hose, Hemd und Turnschuhe, wandte mich zur Schwester: „Mein Bekannter hat es ich
„Ich dachte, sie lebt für ewig“, seufzte und dann: „Kennst Du Kreuzkölln?“ anders überlegt. Wir werden jetzt gehen. Danke für Ihr Hilfsangebot.“ Ohne
„Na klar, da wohne ich!“ Jetzt war die Trauer verflogen: „Oh, muy bueno! Antwort stapfte sie in ihre verglaste Stationszentrale. „Klack!“ Die Eingangs-
Alle reden davon, in Montevideo. Zeig es mir! Por favor! Ja?!“ Damit türen der Station verschlossen sich. Ich schaute zu León, langsam wie ein
begann der Abend. Wir fuhren mit der U-Bahn zum Hermannplatz und Raumfahrer zog er die Hose an. Ich ging zum Notausgang, rüttelte, auch
zogen durch eine Handvoll angesagter Clubs. Später, nach diversen Vod- der: verschlossen. Ich ging zur Stationszentrale. Eilig fiel die Tür zu: ver-
ka-Mule und Hefeweizen, ging er zur Toilette. Er tat es oft. Aber wer ver- schlossen. „Was ist los?!“ Einer der bulligen Pfleger rief es mir zu, stellte
trägt schon Vodka-Mule und bayerisches Bier? Ich fragte nach den Drag- sich demonstrativ vor die Ausgangstür. „Ich möchte die Stationsärztin spre-
Kings, dem Nachtleben, seinem Leben in Montevideo. Seine Antworten, chen.“ Meine Stimme zitterte. „Die hat heute Urlaub“. Der Pfleger grinste.
erst humorvoll und gewitzt, gerieten fahrig, jetzt sah ich, dass er zitterte, Foto: Benjamin Reding Jetzt ruhig bleiben, mit bemüht lässiger Geste zog ich mein Handy hervor:
heftig schwitze. Hatte er die falschen Drogen intus? Dann ließ Léon sein „Wir werden gehen! Ich rufe jetzt Frau Stein an, Staatssekretärin im Bundes-
Bierglas fallen, bückte sich, kramte aufgeregt nach den Scherben, bestellte bildungsministerium, die kenne ich seit meiner Schulzeit.“ (Was stimmte).
mühsam ein Neues. Und ließ auch das Glas fallen. Es glitt ihm aus der Hand, völlig kraftlos. Der bulligste Pfleger nahm sein Walkie-Talkie, drückte einen Knopf. Dann tauchte die Ober-
„Du pennst jetzt bei mir, ok?“ Der kurze Heimweg geriet lang, sein Gang eierte, seine Beine, schwester wieder auf, sagte kühl, ich könne gerne gehen, aber allein. Léon hatte die Hose fast
sein ganzer Körper schien jeden Halt zu verlieren. Dann oben in meiner Wohnung, als ich ihn an, jetzt schnürte er die Schuhe, zeitlupen-langsam. Ich drückte prüfend gegen die Tür, sie blieb
bat, sich schlafen zu legen, krampfte er plötzlich, riss sich die Jacke vom Leib, chaotisch, der verschlossen. Es wurde surreal, ich bekam Angst. Echte, große, abgrundtiefe Angst. Sollte ich
Inhalt seiner Taschen fiel zu Boden: Pass, Geld, EC-Karten und ein länglicher, schmaler Gegen- doch aggressiv werden? Ich unterdrückte mein Beben, tippte demonstrativ ruhig die Nummer
stand. Ein Insulin-Pen. Er sah, dass ich es sah, grinste wirr: „Soy diabético“, dann wurde er ins Handy, horchte. Die Oberschwerster beobachtete mich, intensiv, hin- und hergerissen zwi-
ganz ernst, „Fehler gemacht, zu viel... Insulin“, und sackte weg. Ohnmacht. Notruf! „Ein dia- schen Allmacht und möglichem Jobverlust. Ich setzte alles auf eine Karte: „Sie ist dran!“ (Was
betischer Unfall, bitte, kommen Sie schnell!“ Neukölln am Freitag. Wie lang würde es dauern? nicht stimmte). Die Oberschwester lief los, Richtung Stationszentrale. Plötzlich „Klack“, hörte
Aber schon nach ein paar Minuten ein Klingeln an der Tür: Eine zielstrebige Notärztin und ich die Schlösser aufspringen, packte Léon, flüsterte: „Raus, jetzt!“ und tatsächlich, die Tür ließ
zwei besonnene Sanitäter „Ja, ging schnell. Die tote Königin fegt die Straßen frei, alle gucken sich öffnen, Léon taumelte zum Ausgang. „Dreh Dich nicht um!“ Ich aber tat es: Die Ober-
TV“, sagte die Ärztin, kniete sofort bei Léon, spritzte Glucose, testete seinen Blutzucker, setzte schwester telefonierte hektisch, die Pfleger rannten zu ihr. Wo war noch der Fahrstuhl? Wo
nach, drei, vier Injektionen. Er kam kurz zu sich, schaute uns betrübt an. Sie testete wieder, überhaupt der Hauptausgang? Im Erdgeschoss wurden Notausgangstüren gestrichen, eine
dann zu den beiden Sanitätern: „Er muss ins Krankenhaus, Intensivstation, sofort!“ und zu stand auf: Die! Nur nicht auffallen! Nur gerade durch zum Haupttor, das sich – oh nein! – elek-
mir: „Wir rufen Sie an.“ Glucose-Katheter, Trage, mühsamer Gang durchs Altbautreppenhaus, trisch schloss. Die magische Grenze kam näher, näher, näher. Nur noch ein Schritt: Draußen!
sie nannte mir eilig das Krankenhaus, dann rauschten sie mit Blaulicht über die leeren Stra- „God bless you, please, Mrs. Robinson!“ Plötzlich hatte ich diese Musik im Kopf und diese
ßen davon. Oben, in der Wohnung Stille. Nur das durchgeschwitzte Bettzeug und die leeren Filmszene. Die beiden frisch Nichtverheirateten auf der Flucht. Im Film naht Rettung: Ein Bus.
Kanülen. Die Stille blieb. Kein Anruf. Ich rief an. „Nein, Sie können nicht kommen, er wird Hier muss auch ein Bus kommen, bitte, wie im Film. Ein Bus kam! Ich hatte keine Fahrkarte,
noch verlegt, unsere Intensivstation ist voll.“ Der Morgen dämmerte, wieder rief ich an, neue Léon kein Geld. Der Busfahrer ließ uns passieren. Zu Hause, in meiner Wohnung packte ich
Schicht, neuer Arzt: „Léon? Léon wer? Ja, der ist noch hier, ja immer noch in der Notaufnah- Léon ins Bett, gab ihm zu Essen, kochte Kaffee. Er wurde ganz wach, endlich. „Das war ja wie
me. Alle Intensivstationen sind belegt, in ganz Berlin. Wie es ihm geht? Na, besser.“ Ich fuhr im Film, come un película“, sagte er. „Erst ‚The Queen‘, dann ‚One flew over the cuckoo´s nest‘
hin. Packte eilig ein paar Sachen zusammen, T-Shirt, Hose, Turnschuhe. Das Krankenhaus und zuletzt ‚The Graduate‘, und alles zusammen: ‚Fear and loathing in Neukölln‘.“ Da lachte
kannte ich. Es war einmal berühmt. Ein „Neubau“ aus den 1980er-Jahren mit großem Archi- er. Laut und ausgelassen. Das erste Mal seit gestern Nacht.
054 • AIT 11.2023