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REDINGS ESSAY



                                               REISEFIEBER









                                                               Ein Essay von Benjamin Reding





               S  ie kaufen sich ihr Ticket am Schalter. Sie müssen an keinem Automaten eine Num-  ein Vorhang vor den geschlossenen Augen, schwangen mit den Bewegungen des Wag-
                  mer ziehen. Es gibt auch keine Schlange, sie kommen gleich dran. Sie brauchen
                                                                             gons träge hin und her. Neben dem Model-Jungen ein Geschäftsmann, akkurat, auf-
               keine Zugbindung, keine Bahncard, keine Reservierung. Sie gehen zum Bahnsteig, aber  recht, gebürstet und gekämmt, ganz anders. Oder nein, eigentlich er selbst in 20, 30
               weder schleppen sie ihr Gepäck selbst, noch ziehen sie es im Rollkoffer hinter sich her,  Jahren: Business-Shirt, Lesebrille, MacBook. Auf dem Tisch, verpackt in Leder-Etuis,
               sie stellen es auf ein Wägelchen und schieben es bequem vor sich her. Sie reisen im  Schreibset, Taschenrechner, Aktenmappe. Die Etuis nach Größe geordnet. Er tippte un-
               Spätzug, natürlich fährt noch einer, lange nach 23  Uhr, in eine Mittelstadt. Sie suchen  ermüdlich, von Berlin bis Frankfurt, und unterbrach sich genau zwei Mal. Zum Ersten
               sich ein Abteil, ein eigenes Abteil, keinen vollgestopften Großraumwagen. Ganz viele  für den Verzehr eines Pfirsichs, den er aus einer Tupperware-Dose hervorholte und mit
               Abteile sind frei. Sie können wählen. Sie nehmen ein leeres, weil sie müde sind. Sie  einem Klappmesser in sechs gleichgroße Stücke zerteilte, und zum Zweiten, was mich
               können dort das Licht selbst regeln und die Temperatur, und sie dürfen sogar das Fen-  überraschte, für das Aufschlecken eines Lollys, genau so einen, eingepackt in Knisterfo-
               ster öffnen! Ohne Nothalt und Sicherheitshämmerchen. Tief die Fahrtluft einatmen, den  lie, wie man ihn früher an Süßigkeitenautomaten bekam. Überhaupt saßen viele Män-
               Wind durch die Haare streifen lassen, die Landschaft vorbeihuschen sehen. Und sie dür-  ner im Waggon, fast ausschließlich, aber es gab, gottlob, keinen Herrentagesausflug,
               fen, wenn sie unbedingt möchten, rauchen. Danach schieben sie den Sitz herunter, zie-  keinen Junggesellenabschied, keine Fussballfans, einfach nur viele Männer und eine äl-
               hen die Abteil-Vorhänge zu, löschen das Licht und legen sich schlafen. Und ihr letzter  tere Dame, im Sitz dem Model-Jungen und dem Geschäftsmann gegenüber, die still lä-
               Seufzer vor dem Entschlummern wird sein: „Oh, welche Lust, zu reisen!“ Klingt das wie  chelnd Textnachrichten mit ihrem Smartphone verschickte. Ich wollte das Tischchen vor
               ein Märchen? Mitnichten. So sahen Bahnreisen                                            mir herunterklappen –  was nicht gelang, es
               noch vor den Nullerjahren aus. Und es waren                                             hakte fest – und legte mein Buch nun auf die
               nicht einmal „Premium“, „Comfort“, „de luxe“,                                           Knie. „Wääähhh!“ Das Baby begann zu schreien.
               „Special Edition“- oder Sonderfahrten, es war                                           „Wääähh, wääähh, wääähh!“ Oh, das kann dau-
               schnöde 2. Klasse. Vorbei! So hocken sie, nach                                          ern! Ein bisschen bekam ich es mit der Angst,
               allen Kunden-Optimierungen, Service-Fort-                                               aber der junge Vater ging mit seinem Kind ein-
               schritten, Strecken-Verbesserungen, Bahn-Re-                                            mal den Gang herauf und herunter und das
               formen, nach allen Bahncards und Online-Tik-                                            Kleine beruhigte sich. Ich blätterte durch die
               kets, nach Flex-, Spar- und Supersparpreis nun                                          Buchseiten. „Uch, uch, uch!“ Die ältere Dame
               Rückenlehne an Rückenlehne im Großraumwa-                                               hustete. Der Model-Junge erwachte. Erst wohlig
               gen, das Gepäck zwischen den Knien, weil in                                             verschlafen, dann schaute er mürrisch zur Hu-
               der Ablage wieder mal kein Platz vorhanden     ist.                                     stenden herüber, wie ein junger Löwe, den ein
               Und sie hocken auf den falschen Plätzen, weil                                           vorwitziger Vogel am wohlverdienten Mittags-
               die elektronische Sitzplatzreservierungsanzeige                                         schlaf gehindert hat. „Es ist keine Erkältung, nur
               wieder einmal nicht funktioniert.  Zum Aus-                                             Allergien“, erklärte die ältere Dame, ohne dass
               gleich dafür dürfen sie am Leben ihrer Mitrei-                                          sie jemand gefragt hätte, und dann, in die Stille
               senden teilnehmen, hautnah, geruchsnah und                                              hinein: „Ich habe alle Medikamente dabei.“ Der
               geräuschnah.                                                                            Model-Junge reckte sich, taxierte aus den Augen-
               Vor einer Woche fuhr ich mit dem ICE von Ber-                                           winkeln – mehr ließ seine Coolness nicht zu –
               lin nach Stuttgart. An keinem Feiertag, keinem                                          den humanen Inhalt des Waggons, und da er
               Ferienende, keinem Messetag, ohne Sturm,  Foto: Benjamin Reding                         keine ihm ebenbürtige Schönheit entdecken
               Gleisarbeiten oder Hitzewelle. Natürlich war                                            konnte, steckte er die Earphones wieder fest in
               der Großraumwagen trotzdem voll besetzt. Ich                                            seine Ohrmuscheln und schloss die Augen. Ich
               hatte keine Reservierung, ich suchte einen freien Platz, fand ihn, setzte mich, verstaute  schaute nicht mehr in das Buch, ich schaute aus dem Zugfenster: Der Himmel, Wölk-
               das Gepäck zwischen den Knien und wollte lesen, ein dickes Buch, einen Bestseller,  chen an Wölkchen, künstlich, wie auf einem Bild von René Magritte, „Ceci n’est pas le
               schnell noch im Bahnhof gekauft. Ich stellte den Sitz in Liegeposition, lehnte mich zu-  ciel“. Und darunter die Bundesrepublik-Landschaft: Autobahn, Strommast, Windrad,
               rück und schaute, bevor ich im Textbrei versinken würde, noch einmal kurz hoch.  Vorortsiedlung, Satteldächer, schwarz glänzend. Ein Mann stand auf, ganz hinten im
               „Bähhh“, „Bbbrrrrbrrrr“, „Bububu“. Ein junger Mann fotografierte sich mit seinem Kind,  Waggon. Groß, Ringer-Schultern, Zimmermannshände. Aber der Mann war keiner,
               er trug es, eingewickelt in ein Tuch, vor seiner Brust, ein Baby noch, nicht älter als zehn,  wollte keiner sein. Sie war eine transsexuelle Frau. Aufrecht ging sie durch den Wagen,
               elf Monate. Es brabbelte und schaute zum Papa hoch und der Papa nach vorn, in die  ein Farbtupfer im geblümten Kleid, zwischen dem Grau-Blau der Anzüge und Kaufhaus-
               Linse seines Smartphones, erst noch mit dem üblichen Kamera-Lächeln, dann aber, als  Sportkleidung. Sie wurde betrachtet, aber nicht begafft. Vielleicht fuhr sie deshalb im
               das Kind die Händchen zu ihm ausstreckte, strahlend, überwältigt und fassungslos über  ICE. „Unser nächster Halt ist Stuttgart.“ Die überlaute Ansage ließ keinen Zweifel. Ich
               das Glück, ein eigenes Kind zu haben. Ich schlug mein Buch auf. „We will! We will! Rock  fror, die Klimaanlage hatte russische Wintertage simuliert. Meine Beine waren nach vier
               you!“ Irgendwoher wummerte dieser unverkennbare Beat. Der alte Queen-Song. Ich  Stunden angewinkelter Unbeweglichkeit eingeschlafen. Der Model-Junge blickte miss-
               schaute mich um. Jetzt erst bemerkte ich die beiden Männer am Vierertisch in der Reihe  launig hoch und versank dann wieder in sich selbst. Das Baby im Strampler juchzte,
               neben mir. Der eine, am Fenster, schön wie ein Model für Sportklamotten, die er auch  sein Vater steichelte es. Sicher wird es sich an die Bahnfahrten seiner Kindheit später
               trug, schlief, die Earphones seines MP3-Players in den Ohren. Seine langen Haare, wie  mit Wehmut erinnern. Ich klappe das Buch zu, keine Zeile hatte ich gelesen.


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