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BÜRO UND VERWALTUNG • OFFICE BUILDINGS THEORIE • THEORY
daran, dass den gespeicherten grauen Energien genutzter Materialien zu wenig Wert beigemessen wird.
Der festgelegte CO -Preis spiegelt diesen aktuell nicht wider, wird sich aber schrittweise erhöhen. Die
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Integration dieser Ansätze in qualitative Gestaltung kann diesen Prozess beschleunigen. Beide Entwick-
lungen haben Einfluss auf den Planungsprozess und die Ästhetik in der Gestaltung. Das sinnliche Erleben
wird dabei durch die erweiterten Möglichkeiten bereichert. Das betrifft den bewussten Einsatz von Zitaten
durch das Wiedereinbringen von bestehenden Bauteilen ebenso wie den Einsatz natürlicher Baustoffe,
die durch neue Verarbeitungstechniken überraschen. Bei allen Varianten spielen die reversiblen Konstruk-
tionen eine entscheidende Rolle. Manche Baustoffe, die in der Vergangenheit fest miteinander verbunden
wurden, lassen sich dank innovativer Technik heute schon trennen. So können alte Fußböden in ihre Ein-
zelbestandteile getrennt werden und in gleicher Qualität wieder eingesetzt werden. Das Wissen zu diesen
rasanten Entwicklungen muss stetig vermittelt werden. Auf der einen Seite sind die Hochschulen gefragt,
ihre Lehrinhalte zu erweitern, und auf der anderen Seite die Büros, die neue Gestaltungsmöglichkeiten im
laufenden Betrieb mutig einsetzen und ausprobieren. Damit wird klar, dass die Aufgabe der Planenden
Fotos: Jewgeni Roppel darin liegt die politischen Rahmenbedingungen in gute Gestaltung zu übersetzen. Die Qualität von Gestal-
tung lässt sich durch die EU-Taxonomie zukünftig auch messen. Und unsere Sehgewohnheiten? Sie werden
Design herauszugeben. Es basiert auf der tiefen Überzeugung, dass unsere Zukunft positiv gestaltet und
Gewerbehof Flei-75 in Lübeck mit Büronutzung • Flei-75 estate in Lübeck with office use sich anpassen. Vor diesen Hintergründen entstand die Idee, ein Jahrbuch zu nachhaltiger Architektur und
dieser kreative Akt gemeinsam mit allen Akteuren entwickelt werden kann. Das Jahrbuch „Sustainable
Bauteile, Wandstücke, Bodenbeläge ... • Building components, wall sections, floor coverings ... Architecture & Design 2023/2024“ (s.u., Buchtipp) kann im besten Fall diesen Prozess begleiten. Es präsen-
tiert relevante Themenfelder der Transformationsentwicklung wie Suffizienzbestrebungen, bestmöglicher
Ressourceneinsatz sowie zirkuläre Prozesse, aber auch soziokulturelle Aspekte und Biodiversität.
Circular Design Lab mit experimentellen Biomaterialien aus lokalen Rohstoffen
Mit dem Projekt LOT 8 zeigen Atelier LUMA aus Arles, BC architects & studies aus Brüssel und das
Londoner Büro Assemble, was beim Umbau einer Industrieruine in einen Museumskomplex mit regio-
nalen biobasierten Materialien möglich ist. Grundlage waren die Ergebnisse jahrelanger Forschung, die
sich mit globalen wirtschaftlichen, ökologischen und menschlichen Herausforderungen befassen und
sich in fast 20 Bauanwendungen wiederfinden: von Türgriffen aus Salzkristall über Abbruchabfälle in
Stampflehm bis hin zu Akustik- und Wandverkleidungen aus Agrarabfällen. Sonnenblumenfasern, Reis-
stroh sowie mineralische Ressourcen, Tonabfall, Erde, Steinabfälle und Staub wurden zu Baumaterialien
umfunktioniert. Der bioregionale Ansatz bedeutet die Transformation ungenutzter, lokaler Ressourcen
zu ungewöhnlichen Produkten. Die meisten Rohstoffe stammen aus einem Umkreis von 70 Kilometer.
Im interdisziplinären Austausch verbinden sich dabei das Know-how lokaler Akteure mit verschiedenen
Fachgebieten, um Lösungen im Bausektor zu schaffen. In vor Ort gerammten Lehmwänden tauchen Kies
... wurden sensibel saniert und eingebunden. • ... were sensitively renovated and integrated. aus Ziegeln, Steinen und Keramik aus Abrissgebäuden in Nîmes auf. Weißer Steinstaub aus Abfällen des
Sarragan-Steinbruchs in Baux-de-Provence verleiht ihnen fast eine Leichtigkeit. Der gestreifte Terrazzo
entstand durch sorgfältiges Zuschneiden und Verlegen zerbrochener Tonziegel aus der Dachrenovierung.
Die Steinfassade wurde mit Kalkputz und gebrochenen Dachziegeln als Zuschlagstoff neu gestaltet.
Sanierung von Gewerbehof und denkmalgeschütztem Kornversuchsspeicher
Die historische Gebäudestruktur des Gewerbehofs Flei-75 in Lübeck ist seit dem 19. Jahrhundert geprägt
durch ein straßenseitiges Mehrfamilienwohnhaus und die dahinter liegende Werkstatt sowie das Atelier-
haus. Ziel der notwendigen, durchgreifenden Sanierung durch Haufe Petereit Architekten aus Lübeck
war, die Ablesbarkeit der Geschichte zu erhalten. Um einzelne Bauteile wie alte Treppen und besondere
Wandstücke zu schützen, war eine intensive Abstimmung mit und sensible Herangehensweise durch
denkmalerfahrene Handwerker notwendig. Durch die Weiterverwendung der Gebäude blieb graue Ener-
gie, die vor langer Zeit für die Herstellung der Rohstoffe und den Bau eingesetzt wurde, erhalten. Gründach
und Fassadenbegrünung sorgen für einen maximalen Zugewinn an CO -bindenden Pflanzen. Die Bewäs-
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Pflanzen und Wasserbecken als Teil des Konzeptes • Plants and basin as part of the concept serung ist über ein Regenwasserbecken sichergestellt, das durch die umliegenden Dächer gespeist wird.
In Hamburg war durch jahrzehntelangen Leerstand die umfangreiche Sanierung des denkmalgeschützten
Kornversuchsspeichers notwendig geworden. Dabei konnte das Berliner Team von AFF Architekten die
markante Klinkerfassade weitgehend erhalten – sie wurde aufgearbeitet und durch vorhandene Substanz
ergänzt. Bei der aufwendigen Instandsetzung der Betontragstruktur im Inneren blieben historische Stützen
soweit möglich bestehen. Offengelegte Deckenschütten erreichen mittels Metallmatten und Spritzbeton
den notwendigen Brandschutz. Deren wolkig raue Oberflächen tragen positiv zur Akustik bei. Die gesam-
te Planung verfolgte von Anfang an einen bewusst reduzierten Ansatz: Verzicht auf abgehängte Decken,
auf Putz geführt Installationen, robuste und aufarbeitbare Böden. Durch den Verzicht auf Putz, Farben und
Veredelung entstehen authentische Oberflächen, die Patina ansetzen. Historische Betonteile sowie freige-
legtes Mauerwerk zeigen sich unbehandelt mit zeitlichen Spuren. Der zurückhaltende Ausbau unter Ein-
satz von Monomaterialien betrachtet den gesamten Lebenszyklus der Bauteile und ermöglicht einen rück-
standsfreien Rückbau. (Diese und viele andere Projekte werden in nebenstehendem Buch beschrieben.)
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