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REDINGS ESSAY
VIVE LE PINGU!
Ein Essay von Dominik Reding
M an stelle sich vor, es gäbe irgendwo in Deutschland den Regierungspalast eines Eingangstüren, Türknäufe aus Bronze. Alles Architektenentwurf, bis zum Klingelknopf!
Das Gebäude als Einzelstück, als Gesamtkunstwerk, als Fanal französischer Kultur. Mein
französischen Präsidenten, mit einem Widerstandskämpfer als Auftraggeber und
erstem Bewohner, erbaut im Stil von Le Corbusier und der französischen Moderne der dritter Besuch in Saarbrücken brauchte keinen anderen Grund mehr, ich kam nur wegen
1950er-Jahre, mit einem Bürohochaus auf Pilotis, einem Treppenhaus aus Elsässer Mar- des Pingusson-Baus. Eine Ausstellung fand dort statt: Architektur des Saarlandes der
mor und einem Ballsaal fast so lang wie der in Versailles. Also, ein Bauwerk, so einmalig Jahre 1945 bis 1965. Meine erste Chance, diesen „cette pierre française à la Sarre“, wie
wie der Zwinger in Dresden und das Münster in Ulm! Und dieses Gebäude soll abgeris- Architekt Pingusson seinen Bau titulierte, von innen zu sehen. „Oh, là, là, quelle pierre!“
sen werden. In Berlin-Neukölln wird Französisch gesprochen. Natürlich auch Arabisch Hier herrschte die gediegene, schwere, selbstbewusste Pracht eines Gebäudes der Macht,
und Türkisch und Englisch, amerikanisches, australisches und neuseeländisches Eng- vom Mosaikfußboden über die Kristallleuchter bis zu den Wandgemälden, in situ und in
lisch, aber auch, und mehr und mehr, Französisch. Auf meinem Weg zur U-Bahn kann toto erhalten geblieben! Fast zierlich, fast klein wirkte die Architektur-Ausstellung zwi-
ich es hören, in den Cafés, Kneipen, Restaurants, und im Sommer auf den Terrassen da - schen sieben Meter hohen Fenstern und vier Meter breiten Treppenstufen. Natürlich wur-
vor. Französische Studenten, Austausch-Schüler, Kunst-Szene, IT-Branche! Zuletzt hörte den im Saarland auch Theater, Museen, Wohnhochhäuser und Kirchen gebaut und die
ich es wieder auf meinem Weg zu jenem geheimnisvollen Bauwerk. Es steht in Saarbrü - Ausstellung präsentierte sie ausführlich, aber etwas anderes, Größeres zeigten die Pläne
cken. Keine Stadt, die auf den Must-see-Listen moderner Germany-Touristen auf den vor- und Modelle, man darf es etwas „Seelisches“ nennen. Mir begegnete eine Besatzungs-
deren Plätzen stünde, dabei ist sie ruppig und so trendy unstylish wie Neukölln. Beim er- macht, die erst die Deutschen fürchtete und den Saarländern misstraute; dann ein Saar-
sten Besuch fuhr ich am „Palast“ vorbei, beim zweiten schaute ich durch die Scheiben Land unter französischer Protektion kreierte; dann den jüdischen Widerstandskämpfer
hinein, beim dritten betrat ich ihn. Beim ersten Besuch, ein Filmfestival war der Anlass, Gilbert Grandval als „Haut Commissaire“ einsetzte, der mitten im Krieg, zwischen all den
ging es im Dienst-Mercedes des Ministerpräsidenten über eine der vielen Stadtautobah- Kämpfen und Toten Jean Prouvé und seine moderne Architektur kennen- und schätzen
nen, und der Ministerpräsident, der sein Land gut kannte, erzählte, wie nach 1945 die lernte; dann den aus Paris hinzugeholten Henri Pingusson zum Stadtplaner Saarbrückens
französischen Stadtplaner das schwer kriegsde- ernannte, der wiederum entnervt 1949 hin-
molierte Saarbrücken so radikal auf- und um- schmiss, als sich nebenan die Bundesrepublik
bauen wollten, dass statt einer eng bebauten verfestigte und ein radikal moderner Durch-
Altstadt acht gigantische Hochhäuser entstan- marsch in Saarbrücken nicht mehr möglich
den wären. „Gebaut wurde aber nur dieses schien; dann, quasi als Trostpflaster, den Auftrag
eine.“ Und er deutete auf ein strahlend weiß ge- für den Bau des jetzt „Ambassade“ genannten
strichenes Hochhaus am Saarufer und sagte, Präsidentenpalastes erhielt; als sich dann wäh-
dass sei der „Pingusson-Bau“. Er sagte es so, rend des Rohbaus eine Annäherung zwischen De
wie man „Brühlsche Terrasse“ oder „Viktualien- Gaulle und Adenauer andeutete, dadurch der
markt“ oder „Big Ben“ sagt, also beim Hörer die Entwurf eines Saar-Statuts möglich wurde, das
Bekanntheit des Genannten voraussetzt. Aber Saarland als unabhängiges, eigenständiges Land
ich hatte von einem Pingusson-Bau noch nie und Saarbrü cken als Hauptstadt eines geeinten
zuvor gehört. So aus der Ferne sah das auch gar Europas vorsah und das dann, wider alles Erwar-
nicht so beeindruckend aus, eher wie ein typi- ten, bei der Abstimmung krachend abgelehnt
sches 1950er-Bürohochhaus mit Rasterfassade wurde, weil der Wunsch der Saarländer, zum
und Flugdach. „Das war der Amtssitz des fran- Wirtschaftswunder-Westdeutschland dazuzuge-
zösischen Hochkommissars, bis 1949 quasi der hören, doch stärker war als alle Europa-Sehn-
Präsident des Saarlandes, Gilbert Grandval, ein sucht, und damit ein Bauwerk fertig da stand,
ehemaliger Widerstandskämpfer, aber als der das sich in der Realität einer wachsenden, echten
Bau 1955 fertig war, hatten sich die Saarländer Foto: Dr. Uwe Bresan, Stuttgart Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen
gegen einen eigenen Saar-Staat und für die Bun- überlebt hatte, ein viel zu großer, steifer Mantel
desrepublik entschieden, eigentlich ging das Ge- für ein wahrhaftiges, warmes Gefühl. Im Zug zu-
bäude gar nicht mehr in Betrieb. Jetzt ist es das rück nach Berlin las ich, dass die nötige Asbest-
Kultusministerium.“ Dann drehte der Mercedes des Ministerpräsidenten in die nächste Sanierung des Pingusson-Baus etliche Millionen kosten wird und nun viele sagen: zu
Betonkurve und das weiße Hochhaus entschwand. Bei meinem zweiten Besuch war der teuer! Und denke, na, vielleicht haben sie recht, zu teuer die Rettung, zu exklusiv, nur ein
Bau geschlossen, das Ministerium wegen Asbestzements ausgezogen und sein Schicksal Symbol, das da konserviert werden soll. Dann bin ich wieder in der U-Bahn nach Neu-
ungewiss. Ich sollte auf einer Podiumsdiskussion etwas Kluges zum Thema Jugend und kölln, höre auf den Sitzen neben mir die jungen Studenten aus Lille, Nantes, Paris, Lyon
Gewalt sagen. Ich versuchte es mit betont einfacher, irgendwie jugendlicher Sprache. und Marseille Französisch sprechen und denke an die Städte, die Einmaliges abrissen,
Aber es wirkte nicht einfach und auch nicht jugendlich, es wirkte stupide. Frustrierter von den Dessauern und ihren Bauhaus-Meisterhäusern bis zu den Berlinern und Potsda-
Spaziergang danach! Durch die Altstadt, über die Saar, dann stand ich davor. Von Efeu mern und ihren Stadtschlössern, und jetzt all das fast verzweifelt, mit der Scham, einen
und Unkraut umrankt, wie Schloss Manderley in Hitchcocks „Rebecca“. Es roch nach Frevelakt zu verdecken, neu wiederaufbauen. Und dann denke ich, ja, dass es richtig
Buchsbaum und Fliederblüten und es war still hier, trotz der Stadtautobahn. Dieses Mal wäre, mehr noch, unbedingt notwendig, diesen seltsamen Pingusson-Bau zu erhalten,
begriff ich, warum sie hier den „Pingusson-Bau“ kannten, so wie die Dresdner ihre Frau- nicht nur als Symbol der erst holprigen und dann doch echt gewordenen Freundschaft
enkirche oder die Berliner ihr Brandenburger Tor. Das Bürohochhaus war nur ein kleines zwischen Deutschen und Franzosen, sondern als Zeichen dafür, was die Europäische Ge-
Segment der Gesamtanlage. Hier stand ich nun vor den Amtsräumen und der Residenz meinschaft, jenseits aller Wirtschaftsinteressen, einmal sein sollte: eine Gemeinschaft
des „Haute Commissaires“, des Präsidenten des Saarstaates, der nie kam. Eine Auffahrt von Freunden, die alle und für immer das Kriegsbeil begraben. Daran erinnern sich ge-
aus knirschendem Kies, dann travertinverkleidete Außenwände, Edelholzfurnier an den rade einige Saarländer und rufen laut „Vive le Pingu!“ Und ich rufe jetzt mit.
066 • AIT 10.2019