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Redings Essay
DER JÜNGSTE TAG
Ein Essay von Dominik Reding
E s ist nicht mehr da!“ Pits Stimme schlingert. „Quatsch, die hängen doch dauernd schimpfen. Auch auf mich ... „Hira“. Sie braucht es nicht zu übersetzen.
um.“ Ich lächle, gehe voran. Aber an der Treppe bleibt Pit wieder stehen, dreht sich
Pit machte ihr Abi mit 1.6, tanzte auf dem Abschlussfest mit dem schwergewichtigen
suchend mal hier mal dorthin. Pit heißt eigentlich Patricia, aber alle nennen sie Pit. Ich Schuldirektor, bis er keuchte und taumelte, lebte ein Jahr in Italien, begann ein Foto -
auch. Immer schon. Wir müssen durch den Saal mit der modernen Kunst, die immer grafiestudium an der Hamburger Kunsthochschule und verliebte sich. Unglücklich in
so viel Platz braucht. Wie bei unserem ersten Besuch, damals auf der Abi-Fahrt. Unsere einen bekannten, verheirateten Presse-Fotografen. In einem Nachtzug nach Warschau
Mitschüler wollten auf die Rollerskatebahn. Pit und ich nicht, wir wollten ins Museum. sah ich sie wieder. „Gehen wir hin?“ „Natürlich!“ In Berlin-Ostbahnhof stiegen wir
26. April 2016. Im Bus sprechen sie Englisch, Französisch, Spanisch. Laut, aus. Das Museum war umgezogen. Ein Neubau, weiß und hell und streng, wie sie es
aufgekratzt. Lesen geht nicht, schlafen auch nicht. Also dämmern. Oder doch jetzt alle sind. Im neuen Licht sah das Bild anders aus, die Farben viel kräftiger. Rot,
Tagebuch schreiben. Wollen die auch alle dahin? Der Bus ist voll bis zum letzten Blau, Gelb, leuchtend, fast schrill. Lange betrachtete Pit das Bild, die dunklen,
Platz. Draußen April-Kälte, sternklare Nacht. Die Lichter von Skopje entfernen sich. Ich gebeugten Gestalten im Vordergrund, „Warum betet die Frau? Um wen hat sie Angst?
schaue nach dem Pass, den Pa pieren, lese meinen Namen, Patricia Kamp, immer Ihren Freund vielleicht? Sie hat ihn verloren ...“ Sie blickte ins Leere, mit Schmerz.
wieder. Wie zur Vergewisserung. 5. Mai 2016. Zurückgedrückt sagen sie hier. 30 junge Männer. Von der
Aber es gab kein Museum in der Nähe. Nur Würstchenbuden auf einem Parkplatz. Und Grenze zurückgedrückt. Sie mussten den Polizisten ihre Jacken geben, ihre Rucksäcke,
Pfützen und Matsche. Es regnete seit Stunden. Unter dem Dach einer Bus hal testelle sogar die Schuhe. Prellungen, Schürfwunden, aufgeplatzte Lippen. Unsere freiwillige
schauten wir in unseren Reiseführer. Ja, ein paar Ärztin kümmert sich. Sie arbeitet 16, 18
Häuserblöcke weiter sollte eins sein. Wir rann- Stunden, ohne Honorar. Nachts bittet sie mich
ten los. In der Eingangshalle trocknete sich Pit um Essen, ihre Hände zittern.
mit ihrem T-Shirt die Haare. Ich suchte nach Bei unserem nächsten Treffen wollte sie nicht
Kleingeld. „Schon gut.“ Der Herr an der Kasse mehr hin. Aber ich wollte. „Ist doch unsere
winkte uns durch, vielleicht weil wir so nass Tradition.“ Pit hatte Termine. Eine Rede auf
waren. Damals hing es ganz hinten im Saal. einem Kongress, seit drei Jahren war sie Dozen-
Schwarzer Rahmen mit Goldleiste. Wir wollten tin für Fotografie an einer Privat-Universität
das Bild gar nicht an schauen. Aber daneben war und abends Ausstellungseröffnung bei ihrem
die Heizung. Pit streck te ihre Hände in den war - Galeristen. „Das ist so düster, das Bild, diese
men Luftzug. „Was haben die denn für Glubsch - verzweifelten, gebückten Gestalten. Wie Vertrie-
augen?“ Sie betrachtete das Bild und lach te. bene sehen die aus. Sei mir nicht bös´, ich
„Wie die Moor-Unken.“ mag´s nicht mehr sehen.“
27. April 2016. Endlich angekommen, 12. Mai 2016. Sie hat ein Kind bekommen.
bei Son nenaufgang. Sie zeigen mir den Foto: Benjamin Reding/Ludwig Meidner-Archiv im Jüdischen Museum, Frankfurt a.M. Unbemerkt von uns allen. Eine junge Frau aus
Schafplatz. Ein Stück Betonboden zwischen Libyen. Sie war erst zwei Tage im Camp.
Pappkisten. Aber das Team ist freundlich, fünf Gestern Nacht, im Zelt, allein. Dann sprach es
Feste und 30 Vo lunteers. Morgen werde ich sich herum. Wir haben die Ärztin geschickt,
dabei sein, das erste Mal im Camp. Eine Über - aber es war vorüber. Beide sind gesund, wohl-
setzerin kommt auch mit. Siham, aus Homs. auf. Immerhin.
Bin nervös, brauchen die mich da überhaupt, Pit rief mich an. Vor zwei Tagen. Sie sei in Ber -
noch so eine Gutmensch-Helfer-Tante?“ lin, Flugtickets bestellen, Visa beantragen. Ob
Die Farbe klebte an der Leinwand, breite Bah nen, dick wie Spachtelmasse. Ein wild wir uns sehen könnten? „Wie immer, im Mu seum?“ „Ja“, sagte sie.
beweg ter schwarz-blauer Wolkenhimmel, eine unru hi ge Landschaft in schrillen Rot- 19. Mai 2016. Im Zelt bei Siham, wir trinken Tee. Sie fragt nach Europa. Wie
und Gelbtönen, da run ter und davor, in schwarze Tü cher gehüllt, eine Gruppe Men - man sich anzieht, wie man sich mit Freunden trifft, wo man ausgeht. Sie möchte
schen, Alt und Jung, Mann und Frau, geduckt, die Augen angstvoll aufgerissen, die nach Deutschland, wie fast alle hier. Frei will sie sein. Sie sagt es immer wieder. Sie
Arme ekstatisch gereckt. „Was soll´n das sein? Haben die die faschen Drogen genom- hat studiert in Syrien, drei ihrer Kom militonen sind tot. Erschossen im Bürgerkrieg.
men?“ Pit grinste. „Der Maler auf jeden Fall.“ „Das Museum schließt in zehn Minuten. Sie weiß nicht einmal, von wem. Morgen um 8:50 Uhr geht mein Flug. Thessaloniki,
Bitte begeben sie sich zu den Ausgängen.“ Die knarrende Lautsprecherstimme duldete Berlin-Schönefeld. Ja ich fliege, nicht mehr ge nug Kraft für die Busfahrten. Siham hat
keine Wider worte. „Wenn wir nochmal nach Berlin kommen, dann schauen wir´s uns mich gefragt: Pit, are you coming back to Idomeni?
wieder an, okay?“ Pit schaute mich fragend an, ich nickte. Sie steht still davor, betrachtet es angestrengt, lässt ihre Finger über die geduckten
28. April 2016. Heute früh mit dem Jeep ins Camp. Ich werde Essen Figuren gleiten. „Doch, die kommen durch, ganz bestimmt.“ Pit sagt es leise. Dann
austeilen, die nächsten drei Wochen. Suppen, Couscous-Salat, Fladenbrot, Obst. dreht sie sich um und schiebt mich mit viel Kraft zum Ausgang. „Komm, lass uns was
Überall die weißen Zelte, schwarze Buchstaben auf der Plane UNHCR. Es riecht nach trinken gehen, und was essen, ich hab so´n Meghunger.“ Das Bild hängt da, wo es
verbranntem Plastik. Woher kommt der Geruch? Wir bauen die Tische auf, es gibt immer hängt. Am Ende des großen Saals. Nur das Titelschild haben sie erneuert.
sofort Gedränge, Rufe, Streit. Siham übersetzt. Die Männer in der Schlange Etwas größer, etwas besser zu lesen: „Ludwig Meidner. Der Jüngste Tag.“
066 • AIT 9.2016