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Florian Kaiser Guobin Shen
1987 in Biberach an der Riß geboren 2012 Diplom in Architektur mit 1984 in Zhejiang (China) geboren 2012 Diplom in Architektur mit
Foto: Benno Heller mehreren Auszeichnungen, Universität Stuttgart 2012–2017 Mitarbeit in mehreren Auszeichnungen, Universität Stuttgart 2012–2017 Mitarbeit in Foto: Benno Heller
Architekturbüros 2017 Bürogründung mit Guobin Shen, Stuttgart
Architekturbüros 2017 Bürogründung mit Florian Kaiser, Stuttgart
In der einen Doppelhaushälfte wurde die Fichtenholzkonstruktion naturbelassen, in der anderen weiß pigmentiert. • In one semi-detached house, the spruce-wood construction was left natural, in the other it was pigmented white.
von • by Florian Kaiser und Guobin Shen, Stuttgart
V on Anfang an war es unser Ziel, ein Gebäude zu schaffen, das möglichst aus nach- Fassade aus Weißtanne dezent ab: Die Brettbreiten in der Bodendeckelschalung variieren
leicht zwischen den beiden Doppelhaushälften und lassen so das Innere erahnen. Die
wachsenden und natürlichen Rohstoffen besteht, die in den natürlichen Kreislauf
zurückgeführt werden können. Alles fußte auf der Idee, Strohballen kombiniert mit Leh- baukonstruktiv nötige Aufständerung wird im Erdgeschoss durch ein Betonkreuz und vier
mputz als thermische Hülle für Boden, Decke, Dach und Wand einzusetzen – eine Praktik, Eckstützen erreicht. Die vier sich daraus ergebenden offenen Felder sind Möglichkeits-
die bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt ist und aktuell aus vielerlei Gründen räume. Sie können von den NutzerInnen unterschiedlich bespielt werden – so sind etwa
wieder aufgegriffen wird: Stroh ist nachwachsend, kreislauffähig und damit klima- wie eine Ladestation für ein E-Auto, eine Werkstatt oder eine Sommerküche denkbar. Das
auch ressourcenschonender als herkömmliche Dämmstoffe. Zudem ist es üppig vorhan- Haus verändert sich im Laufe des Jahres: Im Sommer fungieren die Zimmer im Freien
den und kann regional geerntet werden. Dem Lowtech-Material liegt eine unkomplizierte beispielsweise als außenliegende Wohnzimmer und erweitern die Wohnfläche. Im ersten
Handhabung zugrunde: Die Strohballen werden auf eine Dicke von 36,5 Zentimetern in Ausbaustand entschied sich der Bauherr dazu, in einem Feld eine Einliegerwohnung zu
eine Holzunterkonstruktion hineingepresst, wobei Überstände einfach mit einer Hecken- realisieren. Weitere Ausbauten, etwa ein Wintergarten, eine Werkstatt oder ein Gästezim-
schere abgefräst werden können. Unsere Absicht bestand darin, alle sechs Fassaden – mer, sind zukünftig denkbar. Zu dieser nutzungsoffenen Architekturhaltung wurden wir
also auch das Dach und die Bodenplatte – in dieser Strohballenbauweise umzusetzen. von der Cité Verticale in Casablanca inspiriert. Im nachträglichen Weiterbauen durch die
Um auf aufwendige Abdichtungen zu verzichten und die Strohballen in der Bodenplatte BewohnerInnen dieser Siedlung sehen wir eine enorme Bereicherung. In den Wohnge-
dennoch dauerhaft vor Wasser zu schützen, wurde das Haus um ein gesamtes Geschoss schossen sind jeweils acht nahezu quadratische Räume mit einer Abmessung von etwa
aufgeständert. Das kompakte Kernhaus ruht auf einem Betonkreuz und vier Stützen. Bei vier mal vier Metern angeordnet. Diese sind im ersten Obergeschoss längs und im zwei-
geschlossenen Holzfensterläden entsteht der Eindruck eines aufgeständerten Holzmono- ten Obergeschoss quer zum Haus in einer Enfilade aneinandergereiht.
liths, der im deutlichen Kontrast zum freien Gartengeschoss steht. Dabei greift das Haus
behutsam die Körnung sowie die Dachform seiner Nachbarschaft auf und steht mit seiner Verschiedene Wohnungskonfigurationen sind möglich
Staffelung, bestehend aus einem steinernen Sockel und einem auskragenden Holzbau, in
direktem Dialog mit den Fachwerkhäusern im Dorfkern. Hinter der einfachen Grundform Da alle Räume nahezu identisch sind, können sie wechselweise als Küche, Schlaf-, Wohn-
verbirgt sich ein komplex ineinander verschachteltes Doppelwohnhaus. Dabei sind beide oder Esszimmer genutzt werden. So können sie über die gesamte Lebensspanne des
Wohneinheiten jeweils durch eine einläufige Treppe mit dem Gartengeschoss verbunden. Gebäudes hinweg ohne allzu aufwendige bauliche Eingriffe mehrmals ihre Funktion
Die Eingangstüren befinden sich im Erdgeschoss. ändern. Lediglich die dienenden Räume, beispielsweise die Bäder, sind aufgrund der
Installationen klar festgeschrieben. Die Gleichwertigkeit der Räume spiegelt sich auch in
Ein weiterbaubares Haus mit Räumen ohne Eigenschaften der Fassade wider: Sämtliche Räume im Obergeschoss weisen identische Fensterformate
auf. Lediglich die Balkontüren brechen dieses Format auf – wobei diese auf die Durch-
Auf allen Geschossen sind die Wohneinheiten punktsymmetrisch zueinander angeordnet, gangsöffnungen der Enfilade Bezug nehmen. Im Dachgeschoss wurden unter der Dach-
wodurch alle BewohnerInnen von den vier Himmelsrichtungen des Hauses profitieren: schräge breite Bandfester eingesetzt, die ebenfalls alle das gleiche Format haben. Diese
Die Blicke reichen so von jeder Wohnung aus nach Osten zum Kirchplatz, nach Westen Gleichwertigkeit ermöglicht es, im Haus verschiedene Wohnungskonfigurationen abzu-
zum Garten, nach Norden zu den Weinbergen und nach Süden über die Dächer des bilden. Die Wohneinheiten der Doppelhaushälften sind jeweils geschossweise teilbar.
Dorfes in die Weite. Im ersten Geschoss ist das Haus in Längs-, im zweiten in Querrich- So können die zwei großen Maisonettewohnungen in vier kleine Wohneinheiten unter-
tung geteilt. Im Inneren ist die Teilung ablesbar: So wurden die Fichtenholzkonstruktion teilt werden. Die interne Treppe wird in diesem Fall zu einem Treppenhaus, das zwei
und der Lehmputz in der zur Dorfmitte gerichteten Wohnung weiß pigmentiert, in der Wohneinheiten erschließt. Die Zimmertüren zum Treppenhaus bilden dann die neuen
zum Garten gerichteten hingegen naturbelassen. Diese Teilung zeichnet sich auch in der Wohnungseingänge. So kann flexibel auf sich verändernde Familienverhältnisse reagiert
AIT 7/8.2023 • 129