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WOHNEN  •  LIVING   THEORIE  •  THEORY


                                                                         tekturtheorie ein vertieftes Interesse an der Schnittstelle von Theorie und Praxis. 2020
                                                                         erlangte das Büro schließlich über eine publizierte Collage mehr Popularität: Im Zuge der
                                                                         Corona-Pandemie startete Florian Bengert einen Aufruf auf Social Media und motivierte
                                                                         damit nahezu eintausend Personen, ihre Homeoffice-Situationen zu skizzieren. Mit den
                                                                         Grundrissen, die ihn aus aller Welt erreichten, gestaltete er eine Collage, die einen Quer-
                                                                         schnitt der Arbeitsplätze rund um den Planeten darstellte (siehe AIT 10.2020). Dem Auf-
                                                                         ruf des baden-württembergischen Landtags, auf das Förderprogramm „Wohnen im Kul-
                                                                         turdenkmal“ aufmerksam zu machen, gingen auch die Gründer des jungen Architektur-
                                                                         büros nach und potenzierten ihre Kreativität in einem abstrakten Experiment: Wohnen
                                                                         wie Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach im Karlsruher Schloss – und das nicht
                                                                         etwa als Hochadel, sondern als Otto Normalverbraucher. Doch wieso nur den Bestand als
                                                                         neuen Wohnraum nutzen, wenn man das Ganze auch vierzehnfach aufsto-cken kann?
                                                                         Um ihre Gedanken zu illustrieren, verwendeten die Kreativschaffenden das Gemälde des
                                                                         Karlsruher Malers Carl Kuntz, der im Jahr 1804 mit Ölfarbe auf Leinwand das im Barock-
                                                                         stil erbaute Schloss aus beobachtender Perspektive abbildete (siehe Bild S. 120). Sich die
                                                                         beruhigende Atmosphäre des Kunstwerks zunutze zu machen, erzeugt zusammen mit
                                                                         der futuristischen Ausprägung der Aufstockung einen Kontrast, der weit über eine visu-
                                                                         elle Funktion hinausgeht. Mit der Umgestaltung des Bestands (4) und der Erweiterung
                                                                         (5) verweisen die Architekten von Curious About wohl eher mit einem Augenzwinkern
                                                                         auf das tatsächliche Depot an Bestand, welches bislang nur wenigen Privilegierten zur
                                                                         Verfügung steht. Ausformuliert in zwei Grundrissen richten sie sich damit per se nicht an
                                                                         PrivateigentümerInnen der Denkmale – appellieren mit ihrem provokanten Gedanken an
                                                                         jene Institutionen, die über die baulichen Reserven im großen Maßstab verfügen. Und
                                                                         veranschaulichen gesellschaftskritisch den Umgang mit dem unüberschaubaren Defizit
                                                                         an Wohnraum und wie wir diesem durch Anpassung, Aneignung und einer Toleranz für
                                                                         wandelbare Lebens- und Wohnformen entgegenwirken können.

                                                                         Wohnen im Schloss – von Ein- bis Fünfzimmerwohnungen

                                                                         Mit den clusterförmig angelegten Grundrissen, je ein Regelgeschoss für Bestand und Neu-
                                                                         bau, stoßen sie in ihrem Gedankenexperiment einen weiteren progressiven Gedanken
                                                                         an: Wie wird die Zukunft des Wohnens aussehen? Die wachsende Bevölkerungszahl
                                                                         und die immer größer werdende Spanne zwischen Arm und Reich heizen den Kampf
                                                                         um Eigentum – ob Land, ob Haus – an und verdeutlichen ebenso den lauter werdenden
                                                                         Schrei nach alternativen Wohnformen. Die Frage, wie viel Raum wir zum Leben benöti-
                                                                         gen, oder weiter gefasst, wie viel Raum jedem Menschen zustehen sollte, damit die Glei-
                                                                         chung aufgeht, beantworten Bengert, Bessai und Schaaf mit einer anpassbaren Gestal-
                                                                         tung der Grundrisse. Flexibilität lautet das Stichwort, wenn es um langfristig betrachtete
                                                                         Wohnzustände geht. Konkret bedeutet dies für das Karlsruher Schloss Folgendes: Wäh-
                                                                         rend der Bestand mit wenigen Eingriffen durch additives Gestalten der Räumlichkeiten
                                                                         den Wohnungsmarkt aufstockt, definiert sich der formgleiche Aufbau der Regel-Aufstok-
                                                                         kung durch die Verwendung eines Rasters. Geformt aus einer quadratischen Grundfläche
                                                                         werden die einzelnen Elemente zu Ein- bis Fünfzimmerwohnungen zusammengefasst,
                                                                         die sich je nach Lebenslage potenzieller MieterInnen mit erträglichem Aufwand anpas-
                                                                         sen lassen. So kann die einstige Fünfzimmerwohnung einer dreiköpfigen Familie nach
                                                                         Auszug des Kindes zu einer Vierzimmerwohnung umfunktioniert werden; dergleichen
                                                                         sich zwei Wohnungen so zusammenschalten lassen, dass mehrere Menschen in einer
                                                                         größeren Gemeinschaft interagieren können. Unterstützt wird der Gemeinschaftsgedanke
                                                                         – der sowohl den Flächenbedarf dezimieren als auch die Verantwortlichkeit im Umgang
                                                                         mit Wohnraum steigern soll – durch eine halböffentliche Ankommenssituation. Zylin-
                                                                         drische Erschließungstürme führen über eine Wendeltreppe oder einen Aufzug, durch
                                                                         welchen nicht nur die Aufstockung, sondern auch der Bestand barrierefrei wird, in Kom-
                                                                         munikations- und Ankunftszonen, die als weitere Fläche für Aktivitäten, als (Fahrrad)-
                                                                         Abstellräume und zum wohnungsübergreifenden Austausch genutzt werden können.
                                                                         Die 14 Geschosse, die beispielhaft das Potenzial einer Aufstockung skizzieren, geben in
           CAD-Zeichnung: Curious About, Karlsruhe                       folgend variieren können. Mit diesem Gedankenexperiment machen die drei Karlsruher
                                                                         jedem Wohnungskonglomerat der Geschosse zwei Wohneinheiten vor, die dem Konzept
                                                                         – bewusst provokant – potenziellen Wohnraum sichtbar, der je nach Bedarf, Haltung und
                                                                         Anspruch angepasst werden kann. Dabei ist es nicht Ziel, in diktatorischer Manier das
                                                                         Wohnen des Individuums zu bevormunden, sondern einen Denkanstoß für das Leben
                                                                         und Wohnen in der Gegenwart und Zukunft zu geben. Fest steht, dass Wohnraum kein

                                                                         bauen in Zeiten der Ressourcenknappheit, wenn neu denken zum Resultat führt?
           (4) Schloss Karlsruhe, Grundriss Bestand • Karlsruhe Palace, Floor plan  Privileg sein sollte und dass architektonische Reserven vorhanden sind. Wieso also neu
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