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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
Geschichte „von Hand“ sortiert ist, kommt der Laptop hinzu. Leider bin ich aber die Pro-
krastination in Person! Deswegen sieht die Realität ungefähr so aus: Ich pendle die letzten
sechs Wochen vor der allerletztmöglichen Abgabe des Manuskripts im Schlafanzug vom
Bett zum Sofa. Laptop auf dem Bauch, Wärmflasche im Nacken. Zwischendrin fordert der
Hund seine Spaziergänge ein. Nur gut, dass die NachbarInnen keinen Anstoß an meinen
Pyjamahosen nehmen!
r Knapp 8000 Kinderbücher erscheinen Jahr für Jahr in Deutschland. Wie schwierig
ist es, in diesem breiten Marktsegment wahrgenommen zu werden? Welche Rolle
spielen für Sie öffentliche Auftritte, etwa Lesungen oder Messetermine?
Es ist schade, dass viele Verlage ihren Büchern kaum mehr Lebensdauer als einer Zeitung
zugestehen. Wenn drei Monate nach dem Erscheinen die Verkaufszahlen nicht gefallen,
nimmt man eine geplante Serie eben wieder aus dem Programm und setzt auf Neues –
vor allem auf AutorInnen, die sich selbst gut in den sozialen Medien vermarkten. Das
wird zunehmend wichtiger als die traditionellen Maßnahmen wie beispielsweise Messe-
auftritte, liegt mir persönlich aber überhaupt nicht. Ich schätze den Dialog mit einem rea-
len Gegenüber. Zum Glück gibt es die Lesungen! Gerade für KinderbuchautorInnen sind
diese eine wichtige Einnahmequelle, nicht nur als Werbung für unsere Bücher, sondern
wegen des Honorars. Manche meiner KollegInnen gehen über einen Monat am Stück auf
Tour. Ich finde zwei Wochen schon anstrengend genug. Bisher haben mich meine Lese-
reisen in die Schweiz, nach Österreich und natürlich in alle Winkel Deutschlands geführt.
r Trotz der vieler Kinderbücher verlässt laut Internationaler Grundschul-Lese-Unter-
Foto: Prestel; Penguin Rendom House Verlagsgruppe Lesefähigkeiten. Wie lässt sich die Kulturleistung des Lesens (wieder) beflügeln?
suchung 2021 (IGLU) jedes vierte Kind in Deutschland die Schule ohne ausreichende
Spaß statt Muss! Durch spannende Lesungen können wir AutorInnen die Neugier auf eine
Geschichte in die Schule tragen. Dabei gehen wir unvoreingenommen auf die Kinder zu.
Selbst sogenannte „Störenfriede“ werden oft zu lauschenden Lämmchen, die nach der
Veranstaltung unbedingt weiterlesen möchten. Oft haben aber gerade diese Kinder dann
verliehen, es fehlt am Ausweis, und selbst gebraucht können oder wollen die Eltern
das Buch nicht kaufen ... Ich wünsche mir daher Partnerschaften von Kommunen und
Früh bildet sich: Architekturgeschichte ab 8 Jahren • Early learning: architectural history from the age of 8 keine Chance, an das Buch zu kommen! Das einzige Exemplar der Bücherei ist bereits
Sponsoren mit Büchereien und Schulen. Ab der dritten Klasse sollte es in jedem Jahr für
jede Klasse eine Lesung und dazu den unkomplizierten Zugriff auf die jeweiligen Bücher
„Ich war ein Glückskind, das jeden Tag geben. Das wäre gar nicht teuer, wenn die AutorInnen aus der Umgebung kämen. Meine
vorgelesen bekam. Deswegen gibt es Utopie: „Lese-Gemeinden“, in denen ortsansässige Betriebe spenden, was die Gemeinde
für Bücher und Lesungen nicht aufbringen kann. Dafür bekommen sie lesekompetente
viele wunderbare literarische Wesen, Auszubildende. Eine Gewinnsituation für alle Beteiligten!
die mich geprägt haben.“ r Das Haus, in dem Sie bei München leben, ist über 100 Jahre alt. Es erzählt auch
Annette Roeder eine Geschichte. Mehrere Generationen haben es bewohnt. Wie wichtig sind Ihnen
Geschichten, die auch in Dingen schlummern, die Sie umgeben?
Wenn Menschen etwas mit Hingabe entwerfen, herstellen und benutzen, wandert ein Teil
Gemälde von Annette Roeder: Schmiede in der Altmark (2021) • Painting by Annette Roeder: Forge in the Altmark von ihnen hinein. Dadurch werden Dinge lebendig und sprechen mich an. Das vermag
der neu designte Spaghettilöffel Al dente von Bernhard Domig und Ewald Winkelbauer
ebenso wie die antike Teekanne vom Flohmarkt. Zur vornehmen Schönheit der Teekanne
kommt jedoch ihr geheimnisvolles Alter. Ich werde neugierig, gehe auf Spurensuche und
bin beglückt zu erfahren, dass das zarte Porzellan auf einer über 200 Jahre andauernden
Reise vermutlich aus Böhmen zu mir gewandert ist. Unbeschadet! Ist das nicht großartig?!
Der Film im Kopf beginnt: Ich sehe zwei junge Frauen, gekleidet im Stil des Empire, in
einem Gutshaus beim Teetrinken. Warum ist die Kanne dann im Speicher eines Bau-
ernhofs in der ehemaligen DDR gelandet? Wurde sie auf der Flucht gegen Lebensmittel
getauscht? Daraus könnte eine Geschichte werden … Unter dem Pseudonym Helen Abele,
dem Mädchennamen meiner Großmutter, habe ich auch historische Romane verfasst.
r Und zu guter Letzt: Was waren Ihre eigenen liebsten Kinderbücher, als Sie klein
waren? Mit welchen Helden, Heldinnen oder Vorbildern wurden Sie groß?
Ich war ein Glückskind, das täglich vorgelesen bekam. Deswegen gibt es viele wunderba-
re literarische Wesen, die mich geprägt haben! Wenn mal wieder alles zu viel und die Zeit
knapp wird, hilft Beppo Straßenkehrer aus Momo mit seinem Rat: „Immer nur an den
nächsten Schritt denken!“ Loyal, humorvoll und unabhängig wie die Wasserratte aus dem
Foto: privat Wind in den Weiden wollte ich immer gerne sein. Aber die große Liebe meines Lebens
ist der anarchische Pumuckl!
042 • AIT 5.2024