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REDINGS ESSAY
DANCE THIS
MESS AROUND!
Ein Essay von Dominik Reding
Ü berall liegt Müll. Vor Jahren, da lag er im Wald, weggekippte Gefriertruhen, zerfallene ‚Edelstahl Winterhaus KG‘ unter den neuen Namen ‚S & W Spezialstahl AG‘ fusioniert. Zu dem
Schrankwände, abgenutzte Sofagarnituren. Jetzt liegt der Müll in den Innenstädten, in von Ihnen erwähnten Gelände bestehen Expansionsplanungen. Wir danken Ihnen für Ihre
den Hauseingängen, auf den Parkplätzen, auf dem Gehsteig. Überall. Manchmal garniert mit Nachfrage, müssen Ihnen aber mitteilen, dass der Abriss und ein Neubau an gleicher Stelle
Pappschildern, wie: „Zu verschenken!“ Auf dem aufgegebenen Tankstellengrundstück neben- geplant sind. Wir bitten um Ihr Verständnis. Mit herzlichen Grüßen, i.A. Frau Sander.“ Dann
an wird nichts „verschenkt“, hier wird „entsorgt“, tonnenweise. Länger schon ist das Gelände weitere Hochglanzprospekte der Firma ‚S & W Spezialstahl AG‘. Fotografien von Zahnrädern
umzäunt, auch länger schon ist der Zaun durchlöchert, dahinter stapeln sich die aufgeplatzten und Drahtseilen in allen Größen, gefolgt von einem Brief Dianas, jetzt in künstlerisch gestal-
Fernsehsessel und zerknickten Wäscheständer. Manchmal liegen Bücher, Spielzeug, Schulhef- teter Computergrafik: „Sehr geehrte Frau Sander, sehr geehrte S & W-Spezialstahl AG, seit
te um das abgenutzte Großmobiliar herum. Vor drei Wochen hat ein Sturm den Zaun in die dem 12. Januar 2009 studiere ich Tanz an der Julliard-School in New York, Manhattan. Ich
Horizontale verlagert, jetzt liegt der Müll auch auf der Straßenkreuzung davor. Im strömenden hatte das Glück, nach dem Vortanzen aus 500 Bewerbern ausgewählt zu werden. NY ist fan-
Regen lief ich vorbei, mühsam den glitschigen, aufgeweichten Papierhaufen ausweichend. Ein tastisch, ich liebe es! Ich plane, nach meinem Master-Degree im November 2012 nach
schmaler Stapel gelochter Seiten, aus einem Aktenordner gerissen, verbacken zu einem nas- Deutschland in meine Heimatstadt zurückzukehren und dort eine eigene Dance-Academy zu
sen Klumpen, ließ mich anhalten. Auf dem obersten Blatt stand ein Wort, ein bestimmtes, in gründen. Als ich jetzt zu Besuch bei meinen Eltern war, kam ich wieder an Ihrem Grundstück
dieser Nachbarschaft unbekanntes Wort altgriechischen Ursprungs: „Architektur.“ In Schul- vorbei und sah, dass ihr altes, schönes ‚Bauhaus‘-Bürogebäude weiter leer steht. Gerne
handschrift, mit Füller auf Karo-Papier. Ich griff den Papierklumpen, nahm ihn mit zu mir, würde ich die oberste Etage für meine Dance-Academy mieten. Ich bin sicher, dass es auch
legte ihn im Arbeitszimmer auf die Heizung. Lange tropfte der Regen heraus. Dann endlich, gut wäre, wenn der Raum geheizt und durch uns gepflegt würde. Ich könnte zirka 1000 Euro
vorsichtig, ließen sich die Seiten trennen. Der Rest einer Korrespondenz, die letzten Seiten monatliche Miete aufbringen. Danke im Voraus für Ihre Antwort. Bitte drücken Sie mir für
fehlten. Ich setze mich an den Schreibtisch, trank schwarzen Tee und las: „Liebe Drahtseilfa- meine Zwischenprüfung an der Julliard School die Daumen! Ganz herzlich, Ihre Diana B.“
brik, lieber Herr Direktor, wir, die Tanz-AG des Albert-Einstein-Gymnasiums bereiten für die Dieses Mal kam die Antwort schnell: „Sehr geehrte Frau Diana B., wie wir Ihnen bereits mit-
Abiturfeier ein Tanz-Stück vor, ‚On the Town‘ von Leonard Bernstein. Ich spiele einen von den geteilt haben, bestehen intensive Planungen zur Umnutzung/Neubebauung des Geländes. Die
drei Matrosen, (den ‚Chip‘). Wir haben nicht genug Jungs in der Gruppe, darum tanzen wir S & W Spezialstahl AG fusionierte zwischenzeitlich mit der ‚Shanghai Steel Ltd. CSC‘. Es ste-
Girls auch einige der Jungsrollen. Bei uns in der Schule proben können wir nicht, unsere hen auch firmenintern signifikante Umstrukturierungsmaßnahmen bevor. Wir können Ihnen
Turnhalle wird gerade repariert. Darum wollte ich Sie fragen, ob wir die daher leider kein Angebot unterbreiten. Mit freundlichen Grüßen, Shawn
Probe vielleicht bei Ihnen auf Ihrem Fabrikgelände machen dürften, so für Hunt, CEO/Immobilien-Management.“ Nach mehr als zwei Jahren Dianas
vier Wochen, immer freitags. Beim Vorbeigehen an Ihrer Firma habe ich Antwort: „Sehr geehrter Herr Hunt, es tut mir leid, dass ich Ihnen jetzt erst
gesehen, dass ein altes Bürogebäude (an der Kreuzung, neben ihrem antworte, aber bei mir hat sich viel geändert: Nach meinem Master an
Haupteingang) leer steht. Es ist ein großes Backsteingebäude, mit runden der Julliard School habe ich als Tänzerin Engagements an Tanz-Projekten
Ecken und vielen Fenstern, so in dieser Bauhaus-Stil-Architektur. Ganz verschiedener Theater- und Opernhäuser, unter anderem am ‚Dance Mis-
oben drauf ist eine Kantine (?), also ein großer Raum mit hohen Fenstern. sion Theater‘ in San Francisco, am Royal Opera House in London und
Dürften wir, die Tanz-AG, den Raum für unsere Proben nutzen? Wir haben dem Staatstheater Stuttgart angenommen. Vor zwei Jahren habe ich
schrift ungeübt, aber kraftvoll, sie sollte wohl besonders erwachsen, etwas Foto: Benjamin Reding geheiratet und vor einem Jahr auch ein Kind, meine liebe Lucia, bekom-
nicht viel Geld, aber wir legen dafür zusammen. Wäre das möglich? Bitte
men. Um eine eigene Dance Company zu gründen, bin ich 2014 in meine
sagen Sie: Ja! Mit lieben Grüßen, Diana B…“ dann der Name. Die Unter-
Heimatstadt zurückgekehrt. Bei einem Spaziergang nach der Premiere
dramatisch aussehen. Eine Antwort folgt. Drei Monate später. Ein Schreiben der „Drahtseilfa- meiner Inszenierung von ‚Orpheus und Eurydike‘ am hiesigen Opernhaus ging ich müde,
brik Erwin Suchowiak GmbH“, getippt auf dickem Prägedruckpapier: „Sehr geehrte Frau aber glücklich durch die nächtlichen Straßen meiner Jugend. Und da sah ich auch Ihr altes
Diana B., danke für Ihr Schreiben vom 3.2.2004, das wir mit Interesse gelesen haben. Es freut Bürogebäude wieder. Die Erdgeschoss-Scheiben sind jetzt verbrettert, die Backsteinwände mit
uns, dass sie unser Bürogebäude wertschätzen, das Herr Generaldirektor Dr. h.c. Erwin Graffitis übersprüht und auf der Dachetage sind die großen Fenster eingeschlagen. Das Fir-
Suchowiak sen. 1927 in Auftrag gab. Sie sehen es richtig, das Gebäude ist alt, wir beabsichti- mengelände wirkt insgesamt aufgegeben. Da meine Dance-Company und ich nun fest am
gen, es in naher Zukunft durch einen Neubau zu ersetzen. Ich muss ihnen daher leider absa- städtischen Opernhaus engagiert sind und ich im Sommer mein zweites Kind erwarte, wäre
gen. Gerne kommen wir aber auf Ihre Anfrage zurück, sollten sich neue Möglichkeiten erge- ich glücklich, wenn ich das leerstehende ehemalige Bürogebäude für meine Familie als Ort
ben. Für Ihr Tanztheater-Projekt wünschen wir Glück und Erfolg! Mit herzlichen Grüßen, i.A. zum Leben und für meine Dance-Company als Probeort erwerben könnte. Gerne würde ich
Jürgen Schnittgereit, Prokurist.” Ein Jahr später ein Brief Dianas, jetzt getippt: „Sehr geehrter dieses schlichte, zeittypische ‚Bauhaus‘-inspirierte Bürohaus vor dem Verfall bewahren. Die
Herr Schnittgereit, das Abitur habe ich geschafft und wir, die Begeisterten aus unserer ehema- ‚runden Ecken‘ sind mir ans Herz gewachsen! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Bemühun-
ligen Schul-Tanz-AG haben gemeinsam eine Tanzgruppe gegründet. Die ‚Free Spirited gen, Ihre Dina B…, Choreografin, M.A. PS: Am Sonntag, 15. Mai hat unser aktuelles Stück,
Movers!‘. Wir tanzen von Breakdance bis Ballett und trainieren zweimal die Woche und Leonard Bernsteins ‚On the Town‘ hier am Opernhaus Premiere, in komplett weiblicher Beset-
würden dafür gerne den Raum/ehem. Kantine (?) oben auf Ihrem Bürohaus mieten. Ich war zung. Ich tanze die Matrosin ‚Chip‘. Sie sind herzlich eingeladen!” Hier endete der Briefwech-
gestern dort, das Haus steht ja weiter leer. Wäre eine Anmietung möglich? Wir räumen danach sel. Vielleicht hatte ein Hund die letzten Seiten zernagt oder es gab einfach keine Antwort
auch alles auf und würden den Raum neu streichen. Vielen Dank für Ihre Antwort, liebe mehr. Der Name der Stadt blieb unkenntlich, vom Regen verwischt. Sollte ich danach suchen,
Grüße, Diana B…“. Ihre Unterschrift selbstbewusst, aber jetzt natürlicher. Der Antwortbrief es googeln? Ich schob die zerknitterten Blätter beiseite. Ein solches Bürogebäude gibt es
war mit einem Firmenprospekt verbacken, die Druckertinte zerlaufen: „Sehr geehrte Frau B., überall, sicher auch bei Ihnen, in Ihrer Stadt. Es steht leer, verfällt, wird bald abgerissen. Oder
danke für Ihre Anfrage. Herr Prokurist Jürgen Schnittgereit arbeitet nicht mehr für unser Unter- im Dachgeschoss probt eine Dance-Academy, und in den Etagen darunter wohnen vielleicht
nehmen. Die Drahtseilfabrik Erwin Suchowiak GmbH. hat 2007 mit dem Zahnrad-Hersteller junge Familien. Das wäre doch möglich, oder?
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