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REDINGS ESSAY
                                                 LIEBEN SIE




                                      DIESEN STAAT?





                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            H   öflich wurde der Bundespräsident gefragt: „Lieben Sie diesen Staat?“ Und der Bun-  Schreibmaschine. „Also, Ihr Postkasten wurde aufgebrochen, ja? Oder was war?“ Der
                despräsident, ein älterer Herr, die grauen Haare streng zurückgekämmt, die dicke
                                                                          bärtige, rundliche Endfünfziger starrt auf den Bildschirm. Ja, was war ...? Eine Gerüst-
            Hornbrille akkurat gesetzt, die Mimik kantig-schmallippig-kontrolliert, überlegte. Dann  bauertruppe vorm Haus, harte Jungs, schlecht gelaunt, es gab Ärger um die zwei letzten
            huschte ein schelmisches Lächeln über das zuvor so maskenhaft-mürrische Gesicht: „Ich  Pflanzen auf meinem Balkon. Vielleicht war es Rache, die Sache mit dem Postkasten.
            liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau.“ Es war ein Skandal. Ein Bundespräsident,  „Er wurde aufgebrochen, um circa 13 Uhr.“ Herr Fernbeck hört zu, tippt. Ich betrachte
            der seinen Staat nicht liebt! Es geschah in einem TV-Interview, beste Sendezeit, ARD, No-  sein Büro: Aktenschränke mit Holzrollos, Ficus Benjamini im Übertopf, ein Wandkalen-
            vember 1968. Ein Polizeirevier. Frühjahr 2023: Mein Postkasten im Hausflur wurde auf-  der mit Hundebildern, ein hohes „gotisches“ Fenster am Kopfende, Balkone gegenüber,
            gebrochen, das Metall unrettbar verbogen und verbeult, die Post entwendet. Zwei Tage  sehr nah. „Die können Ihnen ja ins Zimmer winken!“ So ein Scherzchen zu Beginn, das
            später liegt die polizeiliche Vorladung zur Zeugenaussage im weit offenstehenden Post-  hilft immer. Herr Fernbeck sagt nichts, wartet auf meinen nächsten Aussage-Satz. „An
            kasten-Rechteck. Vier Seiten eng bedrucktes Papier. Ich erfülle meine staatsbürgerliche  dem Tag gab es Bauarbeiten am Haus, die Tür stand eine Zeit lang offen.“ Herr Fernbeck
            Pflicht: Ich gehe hin. Aussagen. Bin überpünktlich. Muss warten. Das Revier von außen:  hört zu, tippt. Mein Blick wandert von den Hunden zu seinem Schreibtisch. Links vom
            Ein wilhelminischer „Prachtbau“ mit Erkern und Türmen und „gotischen“ Fenstern,  PC: Mappen, Schnellhefter, Aktenordner, handbeschriftet: „Diebstähle 2020“, „Woh-
            überschwere Backstein-Masse, die tektonischen Muskeln aus Säulen, Bögen, Symme-  nungseinbrüche 2019“, „Vandalismus, ungeklärt, 2017“. Rechts vom PC, akkurat neben-
            trien demonstrativ gespannt. „Da lang“, schnarrt der Polizeibeamte am gesicherten  einander gereiht: Ein Locher, ein Klammerer, zwei Stempelkissen, ein Stempelkarussell,
            Haupteingang, deutet auf einen Nebenraum hinter Alutür mit Riffelglas. Das Revier hier  ein Plastikschälchen mit Büroklammern, ein Entklammerer, ein Datumsstempel, eine
            drinnen: Nun ja ... Zwei vergitterte Fenster, gelblich-weiß gelackte Wände, grauer Lin-  Briefwaage und ein Tintenabroller, Marke „Graf Bluco’s Piccolo“. „Wurden Sie Zeuge der
            oleumboden, zwei ausrangierte Flughafenwartebänke. Sonst nichts. Doch, drei fotoko-  Tat?“ Den „Graf Bluco“ nutzten wir im Studium, er galt damals schon als ein drolliges
            pierte Zettel, mit Reißzwecken übereinander gepinnt, von                           Überbleibsel aus lang vergangenen Wirtschaftswunder-
            Sonne und Zeit zerknittert: „Achten Sie auf Ihre Wertsa-                           jahren. In seinem Umriss den Protagonisten jener Zeit,
            chen!“ und „Verzehr von Speisen und Getränken nicht ge-                           den Herren mit Pepita-Hut und üppiger Leibesfülle nicht
            stattet!“ und „Rauchen verboten!“ Eine junge Frau raucht,                          unähnlich. „Wurden Sie Zeuge der Tat?!“ Tintenabroller,
            hockt zusammengesunken auf dem abgeschabten Flug-                                  Klammerer, Locher, Stempel, Briefwaage ... unverwüst-
            hafenkunststoff. Sie schaut mich an, ein kurzes, müdes,                            lich, immerdar, formvollendet. Wie Kunstwerke. Nein, es
            hilfloses Lächeln. Wir sind die einzigen Wartenden. Der                             sind Kunstwerke, so absolut wie Leonardos Mona Lisa,
            Beamte hinter der Riffelglastür ruft sie auf. Ihr Pass wurde                       Michelangelos David, Shakespeares Hamlet. Kunstwerke,
            gestohlen, sie bittet, mehr noch, fleht um Ersatz. Eine                            denen man nichts mehr wegnehmen oder hinzufügen
            Österreicherin. Ich höre ihren Akzent „Da können wir                              kann, ohne sie zu zerstören. „Jetzt zum dritten und letzten
            nichts machen!“ Der Beamte redet auf sie ein, erklärt aus-                        Mal: Wurden Sie Zeuge der Tat?!!“ Herr Fernbeck brüllt es.
            führlich, welche Papiere sie im österreichischen Konsulat                         „Oh ... sorry ... Nein, wurde ich nicht.“ Er tippt, die Tasten
            erbitten muss, um dann ihre Papiere bei der deutschen                             klappern hart. „So, ich drucke das jetzt aus, dann lesen
            Polizei als gestohlen melden zu dürfen. Sie kämpft, höf-                          Sie es und unterschreiben!“ Ich nicke. Begriffe ziehen im
            lich: ob nicht doch, ob nicht anders, ob nicht online? Aber  Grafik: Benjamin Reding  Geiste vorbei, man hörte sie zuerst vor drei Jahrzehnten,
            seine „Neins“ bleiben unerbittlich. Erschöpft kehrt sie in                        dann wieder und wieder, bestimmter und bestimmter:
            den Warteraum zurück, packt ihre Sachen, sagt im                                  Das „papierlose Büro“, das endlich Realität wird, das
            Gehen: „Servus.“ Und ich sage: „Viel Glück“ und denke: „Morituri te salutant!“, die Tod-  Wohlfühl-, das Erlebnis-, das Homeoffice, das kommen wird, ganz bald, morgen, heute,
            geweihten grüßen dich ... Die hier sitzen, hoffen und warten, werden zur Gemeinschaft.  jetzt. Herr Fernbeck schiebt mir den Ausdruck zu. „Durchlesen!“ Ich lese, bemerke Feh-
            Wie die Gladiatoren in den Gängen der Arenen. Eine Gemeinschaft der Verlorenen, ganz  ler, die Gerüstbaufirma wird mit Namen erwähnt, aber ich will keinen Ärger mit denen,
            gleich, ob Dieb oder Bestohlener, schuldig oder schuldlos. Ich warte, still und geduldig.  bitte um Änderung. „Na, wenn’s denn unbedingt sein muss ...“ Herr Fernbeck tippt,
            Dann ruft der Beamte durch dieoffene Riffelglastür meinen Namen und sagt: „Ich bringe  druckt aus, schiebt mir die neuen Blätter zu, deutet wortlos auf die gestrichelte Linie zur
            Sie hoch!“ Energisch geht er vor, ich unsicher hinterher, durch neogotische Gänge, Trep-  Unterschrift. Der Name der Gerüstbaufirma steht wieder im Text. Ein Schmerz über-
            pen, Flure. Wie eine Kirche, ein Kloster wirkt der Bau. „Du sollst nicht falsch Zeugnis ab-  kommt mich, ein tiefes, inneres Stöhnen, das Gefühl, Nebendarsteller in einem nicht
            legen wider deinen Nächsten!“ L’architecture parlante in Vollendung. Dann endlich, drit-  enden wollenden „Tatort“ oder „Derrick“ oder „Der Alte“ des Jahres 1978 zu sein. Dann
            ter Stock, letzter Gang: eine Tür mit Schildchen im Edelstahlrahmen: „Polizeihauptkom-  höre ich meine Stimme, viel zu laut im neogotischen Lackzimmer: „Es gab mal einen
            missar Jürgen Fernbeck. Dienstzimmer 247“. Die Tür zu Polizeihauptkommissar Fernbeck  Bundespräsidenten, der antwortete auf die Frage ‚Lieben Sie diesen Staat’: Ich liebe
            steht einen Spalt offen. „Herein!“ Ich schiebe mich durch den Spalt. Er tippt, unterbricht,  keine Staaten, ich...“ Herr Fernbeck unterbricht, beendet den Satz. „Ich liebe meine
            räuspert sich, schaut hoch, dann, sachlich-freundlich: „Nehmen Sie Platz“, und deutet  Frau! Gustav Heinemann. Der war ein kluger Kopf!“ Er greift nach den Zetteln. „Ohne
            auf einen Stahlstuhl vor seinem Schreibtisch. Er mustert mich, eingehend-prüfend, wie  den Namen der Firma können wir schlecht ermitteln.“ Er schaut mich an, mein Blick
            gewiss jeden, der hier zuvor Platz nahm, gleich, ob Täter, Opfer, Verdächtiger oder Zeuge.  ruht auf dem Tintenabroller. „Ja, so was sammel’ ich. So alten Bürokram. Der ‚Graf
            „Sie sagen aus und ich tippe das, dann bekommen Sie es zu lesen und Sie unterschrei-  Bluco‘ ist mein Highlight!“ Sagt es, nimmt einen Kugelschreiber und streicht den Namen
            ben.“ Dann wendet sich Polizeihauptkommissar Fernbeck zurück zum Schreibtisch. Im-  der Gerüstbaufirma durch. „Ich verstehe Sie. Dann bitte hier unterschreiben.“ Und das
            merhin, er tippt auf das Manual eines PC, nicht auf die Tasten einer Adler-Triumph-  tue ich, etwas beschämt und deutlich erleichtert.

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